Konkrete Arbeit am Kapital

Michael Heinrichs Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie

Mit der globalisierungskritischen Bewegung artikuliert sich ein diffuser Missmut gegenüber den Entwicklungen, die der Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten hervorgebracht hat. Die unterschiedlichsten Gruppierungen entwickeln auf Grundlage der eigenen Erfahrungen einen Antikapitalismus, der durchzogen ist von den verschiedensten Vorstellungen darüber, was Kapitalismus überhaupt ist und welche Bedeutung dem bürgerlichen Staat zukommt. Dies nimmt Michael Heinrich zum Ausgangspunkt seiner politischen Intervention. In der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlages stellt Heinrich den bereits existierenden Einführungen zu feministischer Theorie (vgl. ak 480) und Internationalismus eine zur Kritik der politischen Ökonomie zur Seite.

Dem spontanen Antikapitalismus der globalisierungskritischen Bewegung versucht Heinrich, mit der Einführung die Marxsche Theorie näher zu bringen. "Die Frage, wie der gegenwärtige Kapitalismus funktioniert, ist […] keine abstrakt akademische, vielmehr hat die Antwort auf diese Frage unmittelbar praktische Relevanz für jede kapitalismuskritische Bewegung." Ist der Staat Garant des Allgemeinwohls oder Instrument der herrschenden Klasse? Ist Kapitalismuskritik per se moralisch? Ist Herrschaft im Kapitalismus personalisierbar? Das sind keine Fragen, die im Vordergrund der Einführung stehen; sie werden dort aber durchaus mit der Folie der Marxschen Theorie beantwortet.

Die Einführung ist aber nicht nur an junge LeserInnen gerichtet, sondern auch an gestandene MarxistInnen, die bereit sind, "auch scheinbar Bekanntes und Selbstverständliches […] zu überprüfen." Denn neben dem diffusen Antikapitalismus herrscht auch eine Menge Dogmatismus, der sich in der Marx-Rezeption seit den 70ern festgesetzt hat. Das Festhalten an Kategorien wie Basis und Überbau oder die Vernachlässigung des zweiten wie des dritten Bandes, die für ein Verständnis von Finanzmärkten unabdingbar sind, gehören ebenso dazu wie die völlige Unterschätzung des Geldes, deren Folge nicht zuletzt die Reduzierung der Marxschen Theorie auf eine Form linker Arbeitsmengentheorie war. Aber auch die leninistischen Lesarten des Kapitals sind hier zu nennen, die sich in so mancher recycleten Imperialismustheorie wieder finden und hinter Kriegen eine taskforce aus Monopolkapitalen und Staatsapparat wittern.

Gut ein Drittel des Buches widmet sich dem ersten Kapitel des Kapitals. Dem Zusammenhang von Arbeit in kapitalistischer Warenproduktion, Wert und Geld wird ebenso nachgegangen wie der Frage, wie diese mit den verschiedenen Fetischformen zusammenhängen. Allerdings unterscheidet sich die Einführung von vielen anderen, die darin den Stoff bereits als erschöpft ansehen. Auch der Rest des ersten Bandes sowie die Bände zwei und drei des Kapitals werden eingehend gewürdigt. Dabei kommt Heinrich auch auf den Staat zu sprechen, der in den aktuellen Debatten - ob es nun um imperialistische Kriege oder die Forderung nach einer Tobin-Steuer geht - eine zentrale Rolle spielt. Der Exkurs zu Antisemitismus kann als weiterer Hinweis auf die virulente politische Bedeutung dieser Einführung genommen werden. Im Gegensatz zu vielen anderen, die in der letzten Zeit die Marxsche Theorie hochhalten und vor verkürztem Antikapitalismus warnen, der immer schon mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, weiß Heinrich um die Grenzen der Aussagefähigkeit der Marxschen Kategorien, ohne die wertvollen Erkenntnisse zu diesem Thema klein zu reden.

Allerdings betont Heinrich gleich zu Beginn des Buches, dass seine Einführung die eigene Lektüre des Kapitals nicht ersetzen kann. Seine Einführung legt er als Produkt einer bestimmten Interpretation der Marxschen Theorie - die seit den 70er als "neue Marx-Lektüre" bekannt ist - offen.

Wenn diese Einführung als politische Intervention zu werten ist, dann bleibt jedoch eines unklar: Welchen Stellenwert nimmt die Beschäftigung mit der Marxschen Theorie in sozialen Kämpfen ein? Diejenigen, die in den letzten Jahren eine verstärkte Marx-Rezeption eingefordert haben - nicht zu unrecht wohlgemerkt - gehen von einem Erkenntniseffekt durch eine aufklärerische Praxis aus. Viele haben sich inzwischen mit ihrem Zynismus dem bürgerlichen Fortschrittsglaube verpflichtet und erkennen im sich artikulierenden Antikapitalismus nur noch die Reaktion, auf die es schon gar nicht mehr einzuwirken gilt. Wie Marx aber gezeigt hat, stellen sich Vorstellungen über die Gesellschaft in gesellschaftlichen Praxen her. Erst wenn sich hier eine Kraft entwickelt, die herrschende Produktions- und Verkehrsverhältnisse in Frage stellt, kann auch ein reflektierter Antikapitalismus wirksam in Erscheinung treten. Für diese Reflexion ist Michael Heinrichs Einführung sehr hilfreich, sie kann aber die Organisierung einer kommunistischen Praxis nicht ersetzen. Und hier herrscht Einigkeit: "Trotz all dieser Schwierigkeiten ist aber kein Argument ersichtlich, warum eine kommunistische Gesellschaft prinzipiell unmöglich sein sollte."

Ingo Stützle, analyse & kritik, Februar 2004