Michael Heinrich
Weltanschauungsmarxismus oder Kritik der politischen
Ökonomie?
Replik auf Martin Birkner, „Der schmale Grat“
(grundrisse 1/2002)
erschienen in: grundrisse 3/2002, S. 27-39
In grundrisse 1/2002 setzt sich Martin Birkner
vor dem Hintergrund der seit den 60er Jahren geführten Marx-Diskussion kritisch
mit meinem Buch Die Wissenschaft vom Wert (Münster 1999) auseinander.
Birkner unterscheidet zwei grundsätzliche Linien der Marx-Rezeption, die
weitgehend unvereinbar nebeneinander stehen würden. Die eine Linie bezeichnet
er als „klassische“: sie betone die Bedeutung der Philosophie Hegels für Marx,
rekurriere auf ein anthropologisch bestimmtes menschliches Wesen, gehe von
einer weitgehenden Kontinuität der Wesens- und Entfremdungsproblematik vom
frühen bis zum späten Marx aus und begreife das Proletariat als „revolutionäres
Subjekt“, das eine „historische Mission“ zu erfüllen habe. Dieser klassischen
Lesart stellt Birkner eine auf Louis Althusser zurückgehende „strukturale“,
Linie gegenüber: diese sei vor allem durch die Betonung eines Bruches zwischen
dem jungen (philosophischen) und dem späten (wissenschaftlichen) Marx
gekennzeichnet, wobei dieser Bruch gerade in einem Bruch mit der Wesensphilosophie
und dem Hegelianismus gesehen werde.
Birkner erklärt zwar es ginge ihm nicht um die
Verteidigung einer dieser Linien, doch wird in seinem Text recht schnell
deutlich, wo seine Sympathien liegen. Wenn er am Ende seines Artikels schreibt,
dass es für eine erneuerte antikapitalistische Theorie darauf ankäme, Begriffe
aus beiden Interpretationssträngen nutzbar zu machen, dann klingt das,
angesichts des vernichtenden Urteils, das er über den strukturalen Ansatz
fällt, eher wie eine Höflichkeitsfloskel: Dieser Ansatz habe zwar „interessante
Aspekte ins Spiel gebracht“, aber: „Geopfert werden Historizität und
Subjektivität. Dies führt zum Ausschluss von Veränderbarkeit aus dem Zentrum
der Theorie.“ (38)[1]
Zu Beginn seines Textes hatte Birkner noch
geschrieben, dass es sich bei den beiden Linien um „Idealpositionen“ handle,
die nie „rein“ vertreten, sondern allenfalls dem jeweils anderen unterstellt
würden. Im weiteren verfährt er selbst aber genauso: umstandslos wird mein Ansatz
einer antihegelianisch-strukturalen Linie zugerechnet, um dann die Stereotypen
der gängigen Strukturalismuskritik darauf loszulassen: Ausblendung von
Subjektivität und Geschichte und wegen Antihegelianismus falsche Dialektikauffassung.
Spezifisch für mich kommt dann noch der schwerwiegende Vorwurf hinzu, ich hätte
„den Gegensatz materialistisch/idealistisch nicht verwendet“ (37) und mich positiv
auf „Popper und Gadamer, zweier ausgewiesener Anti-Marxisten“ (36) bezogen.
Die meinem Buch zugrunde liegende These von der
Ambivalenz der Marxschen Grundkategorien - dass diese einerseits einen Bruch
mit dem theoretischen Feld klassischer (und neoklassischer) Ökonomie
artikulieren, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie insofern eine
wissenschaftliche Revolution darstellt, dass sie aber andererseits diesem Feld
an vielen Stellen auch noch verhaftet bleiben - eine Ambivalenz, die nicht nur
die Grundlage recht unterschiedlicher Interpretationen abgibt (die somit
Anhaltspunkte im Marxschen Text finden und daher nicht einfach „falsch“ sind),
sondern auch eine Reihe spezifischer Probleme in der Marxschen Theorie
generiert (wie z.B. das bekannte „Transformationsproblem“), wird nicht einmal
erwähnt, geschweige denn erfolgt eine Auseinandersetzung damit.
Stattdessen greift sich Birkner eine Reihe von
Einzelpunkten heraus und untersucht inwiefern sie seinem Marxismus-Verständnis
entsprechen (wobei man sich bei mancher der dabei aufgestellten Behauptungen
etwas mehr an Begründung wünschen könnte). Dass Birkner meine Fragestellung
dermaßen ignoriert, scheint nicht ganz zufällig zu sein. Die von mir angesprochenen
Ambivalenzen Marxscher Kategorien haben in Birkners Verständnis von Marxscher
Theorie offensichtlich keinen Platz: Zumindest zum Teil schließt Birkners
Marx-Verständnis an genau den traditionellen „Marxismus“ an, dessen Kritik mir
die Voraussetzung dafür zu sein scheint, um mit der Marxschen Theorie in
Zukunft überhaupt noch etwas anfangen zu können. Im folgenden will ich mich nun
nicht auf jeden einzelnen von Birkner kritisierten Punkt beziehen, sondern vor
allem die Punkte, an denen grundlegende Differenzen in der Auffassung der
Marxschen Theorie deutlich werden.
1. Zur Rezeptionsgeschichte der Marxschen Theorie
Ein erster Unterschied wird bereits in der
Konstruktion der Rezeptionsgeschichte Marxscher Theorie deutlich, wo Birkner
einer klassisch-orthodoxen Linie eine strukturale gegenüberstellt. Gegen jede
derartige Schematisierung lässt sich natürlich einwenden, dass bei näherem
Hinsehen die Frontlinien keineswegs so eindeutig verlaufen, wie unterstellt
wird. Bei den von Birkner angesprochenen Punkten könnte man z.B. geltend
machen, dass ein Bruch zwischen „frühem“ und „spätem“ Marx zeitlich und
inhaltlich ganz unterschiedlich festgemacht wird, dass aus der Annahme eines
solchen Bruches keineswegs zwingend eine bestimmte Position zur Bedeutung der
Hegelschen Philosophie für Marx folgt, dass also jede Menge an Kreuzungen der
beiden Linien vorliegen.
Entscheidender als eine solche Kritik ist aber etwas
anderes: Birkners Reduktion der Rezeptionsgeschichte der Marxschen Theorie auf
die zwei genannten Linien taugt nicht einmal als erste grobe Annäherung, da sie
den inhaltlichen und historischen Kontext dieser Rezeptionen völlig ausblendet.
Konkret: Dass sich das, was Birkner unter die „klassische“ Linie fasst, sowohl
aus der Dogmatisierung und Vulgarisierung der Marxschen Theorie als auch aus
mehr oder weniger unzureichenden Versuchen einer Kritik dieses Dogmatismus speist.
Birkner sieht zwar manche Übertreibung oder problematische
geschichtsteleologische Tendenz in der „klassischen“ Linie. Bei ihm geht aber unter,
dass das Marxsche Unternehmen einer Kritik der politischen Ökonomie -
einer Kritik, die nicht nur Kritik falscher Theorien ist, sondern vor allem der
Grundkategorien bürgerlicher Vergesellschaftung (des Werts, aber auch des Subjekts,
dazu unten mehr) - sich fundamental (und nicht nur graduell) von jenem weltanschaulichen
Marxismus unterscheidet, der mit Engels Anti-Dühring (dessen
Einfluss auf die Rezeption der Marxschen Theorie kaum überschätzt werden kann)
anhebt, von Kautsky und später von Lenin zum parteioffiziellen „Marxismus“
ausgebaut wird und dann schließlich zu den Plattitüden der verschiedenen Formen
des Marxismus-Leninismus führte.[2]
Diese Verwandlung von Kritik der politischen Ökonomie
in Weltanschauungsmarxismus (und vor allem dessen Durchsetzung in der Arbeiterbewegung)
ist nicht einfach nur einer falschen Interpretation unaufmerksamer Theoretiker
geschuldet, sondern selbst noch Ausdruck bestimmter historischer Konstellationen:
zum einen der Konstitution der Arbeiterbewegung zu einem reformistischen Akteur
innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, der sich selbst, aufgrund seines
kulturellen und politischen Ausschlusses aus der bürgerlichen Gesellschaft aber
nur durch eine „revolutionäre Weltanschauung“, die diesen Ausschluss ins
Positive wendete, definieren konnte;[3]
zum anderen war „Weltanschauung“ eine zentrale Ressource für die in Russland an
die Macht gekommenen Bolschewiki war, die eine Gesellschaft organisierten, die
nichts mit Sozialismus/Kommunismus zu tun hatte (und aufgrund der politischen,
ökonomischen und sozialen Voraussetzungen auch nichts damit zu tun haben
konnte). Dies soll hier nur angemerkt werden, um von vorneherein dem Missverständnis
zu begegnen, Dogmatisierung sei einfach nur das Ergebnis unzureichender
Lektüre.
Vor allem nach der Spaltung der Arbeiterbewegung
während des ersten Weltkriegs und der Niederlage der revolutionären Versuche im
Westen, gab es gegenüber diesem Dogmatismus immer wieder kritische Ansätze
eines „westlichen Marxismus“,[4]
die an unterschiedlichen Punkten ansetzten und ihrerseits unterschiedliche
Elemente des Weltanschauungsmarxismus mitschleppten.[5]
So wurden die zu Beginn der 30er Jahre erstmals veröffentlichten Pariser
Manuskripte dazu verwendet mit der Lehre vom menschlichen „Gattungswesen“
und der „Entfremdung“ den vorherrschenden Ökonomismus zu kritisieren, ohne
allerdings die fragwürdigen Voraussetzungen dieser Entfremdungstheorie auch nur
zu diskutieren. Althussers Schriften aus der ersten Hälfte der 60er Jahre waren
in erster Linie der Versuch eine erneuerte Orthodoxie, die Teile der früheren
Kritik längst vereinnahmt hatte, zu kritisieren. So berechtigt seine Kritik an
der Wesensphilosophie und der Vorstellung, Marx habe eine bei Hegel
vorfindliche dialektische Methode übernommen und auf die politischen Ökonomie
angewendet, auch war, blieb Althussers eigene Rezeption dessen, was Kritik innerhalb
der Kritik der politischen Ökonomie bedeutet, doch wieder sehr beschränkt -
nicht zuletzt deshalb, weil er nicht zwischen dem (auf Engels und Lenin
zurückgehenden) Vulgärhegelianismus der Orthodoxie und den Problemstellungen
der Hegelschen Philosophie unterschied. Aber immerhin ging Althusser insofern
über die früheren Kritiken am Mainstream des Weltanschauungsmarxismus hinaus,
als er zum einen die argumentative Struktur der Kritik der politischen Ökonomie
überhaupt zum Gegenstand machte und zum anderen nicht einfach ein „Zurück zu
Marx“ forderte, sondern bei Marx selbst eine unzureichende Reflexion seines
eigenen epistemologischen Bruchs konstatierte, was deutlich machte, dass es
nicht ausreichend sei Marx lediglich gegen seine Interpreten zu verteidigen.
Zu einer regelrecht „neuen Marx-Lektüre“ - diesen
Ausdruck verwendete Hans-Georg Backhaus (1997) in der Einleitung zur Sammlung
seiner Aufsätze - kam es dann in den 70er Jahren. Vor dem Hintergrund der
Studentenbewegung der 60er Jahre, der Kritik sowohl an Kapitalismus wie am
autoritären sowjetischen Sozialismus wurde vollständiger denn je mit den Dogmen
des Weltanschauungsmarxismus gebrochen: nicht nur mit den philosophischen Konstruktionen
eines „dialektischen“ und „historischen“ Materialismus, sondern auch mit der zu
einer „politischen Ökonomie des Proletariats“ verkürzten Kritik der politischen
Ökonomie. Im Anschluss an Rosdolskys Studie zu den Grundrissen geriet
vor allem in der westdeutschen Diskussion die „Logik der Marxschen Darstellung“
(und damit auch, aber in einer neuen Weise die Hegelsche Philosophie), die
Frage der Aufbaupläne und des Abstraktionsgrades der Kritik der politischen
Ökonomie ins Zentrum der Diskussion, die sich jetzt auch nicht mehr nur auf das
Kapital beschränkte, sondern Grundrisse, Theorien über den
Mehrwert, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses und die
Erstauflage des Kapital mit einbezog. Die Werttheorie wurde nicht mehr
auf eine Arbeitsmengentheorie reduziert, die vor allem die Austauschrelationen
und die Ausbeutung erklären sollte, sondern als eine Theorie bürgerlicher Vergesellschaftung
aufgefasst, welche die naturwüchsig produzierten Fetischismen und Verkehrungen
zu dechiffrieren hatte, die gleichermaßen dem Alltagsbewusstein, der bürgerlichen
Wissenschaft, wie auch einer Vielzahl „sozialistischer“ Alternativen zugrunde
liegen. Diese Debatte, für die in den 70er Jahren u.a. die Arbeiten von Backhaus,
Reichelt und die Kommentare der Projektgruppe Entwicklung des Marxschen Systems
stehen, waren alle mehr oder weniger dem Versuch einer „Rekonstruktion der
Kritik der politischen Ökonomie“ verpflichtet.[6]
Allerdings legte diese Diskussion die (vor allem von Backhaus betonte) Einsicht
nahe, dass die Marxsche Werttheorie selbst keineswegs frei von inneren
Problemen war, und dass es gerade diese problematischen Konstruktionen waren,
die inhaltliche Anknüpfungspunkte für die diversen Dogmatisierungen und Vulgarisierungen
lieferten. Mit meiner These, dass die Ambivalenzen der Marxschen Theorie
bereits in deren Grundkategorien enthalten seien, knüpfe ich an diese Themen
an. Nicht allein eine auf Althusser reduzierte „strukturale“
Marx-Interpretation, wie Birkner meint, sondern vor allem diese, den
Weltanschauungsmarxismus auch innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie
kritisierende „neue Marx-Lektüre“ bildete den theoretischen Hintergrund meines
Buches.[7]
2. Marx und Hegel
Birkner wirft dem Strukturalismus im Allgemeinen und
mir im Besonderen vor, den Einfluss der Hegelschen Philosophie aus der Marxschen
Theorie zu eliminieren.[8]
Festgemacht wird dies unter anderem an meiner Auffassung von Dialektik.
„Dialektik“ gehört zu den am inflationärsten
benutzten Worten in der marxistischen Diskussion und auch zu denen, die am
wenigstens geklärt sind.[9]
Trotz dieser Probleme ist es in theoretischen Grundsatzdebatten ganz
selbstverständlich, dass man einem Autor, den man kritisiert, vorwirft,
entweder undialektisch zu argumentieren oder einer falschen Auffassung von Dialektik
anzuhängen - und zwar ohne dass der Kritiker aus solcher Kritik die Verpflichtung
ableiten würde, selbst zu erklären was richtigerweise unter Dialektik verstanden
werden soll. Nach diesem Schema verfährt auch Martin Birkner. Da wird Dialektik
einerseits zum „’Herzstück’ der Marxschen Theorie“ erklärt, andererseits aber
davor zurückgeschreckt, dieses Herzstück auch inhaltlich zu bestimmen,
lediglich Kritik an anderen Auffassungen darf geübt werden: „Im Folgenden soll
keineswegs versucht werden eine ‚richtige’ Dialektik zu verteidigen, vielmehr
geht es um das Aufzeigen von Inkonsistenzen in der Heinrichschen Konzeption“
(33). Ganz so immanent wie angekündigt bleibt die Kritik dann aber doch nicht,
sie wird an einem bestimmten Verständnis von Dialektik gemessen (später ist
sogar von den „Aufgaben“ die Rede, welche die „materialistische Dialektik“
habe, 37). Dieses unterstellte Verständnis wird dem Leser aber nicht
mitgeteilt, so dass der Maßstab der Kritik seinerseits jeder Kritik entzogen
bleibt.
In einem gängigen Verständnis des Verhältnisses von
Marxscher und Hegelscher Dialektik wird davon ausgegangen, dass Marx die Kategorien
der Hegelschen Dialektik aus ihrem „idealistischen“ Kontext gelöst und in
seiner eigenen „materialistischen“ Analyse „angewendet“ habe. Diese Auffassung
wurde von mir kritisiert - und zwar im Hinblick auf die Struktur der Hegelschen
Philosophie. Birkner zitiert dazu meine Aussage, „eine Übertragung der Hegelschen
Kategorien setzt voraus, dass sich die Argumentationsfiguren der Hegelschen
Logik überhaupt von ihrem spekulativem Inhalt trennen lassen“ und kombiniert
dies mit einem weiteren Halbsatz, der sich eine Seite nach der gerade zitierten
Stelle findet, Marx „hat es aber immer mit einem äußeren Gegenstand zu tun“ (Wissenschaft
vom Wert, S.169, 170, bei Birkner S.33). Ob irgendein Leser oder eine Leserin,
aus den beiden Zitatfetzen, das von mir vorgebrachte Argument verstehen kann,
sei einmal dahin gestellt. Birkners unmittelbar folgende Behauptung - „Hier
wird nicht nur jeder Einfluss Hegels aus der Marxschen Theorie eliminiert,
sondern auch die Methode der Gesellschaftsbetrachtung und Gesellschaftskritik
von ihrem Inhalt abgetrennt und somit enthistorisiert“ - hält er anscheinend
für so offensichtlich, dass er sich jede weitere Begründung erspart.
Worum geht es? Die Auffassung, Marx habe Hegelsche
Kategorien aus ihrem idealistischen Zusammenhang gelöst und dann „angewendet“,
unterstellt, dass eine solche Herauslösung überhaupt möglich ist. Gegen diese
Unterstellung hatte ich in meinem Buch eingewandt, dass die logischen
Kategorien Hegels immer nur sich selbst zum Gegenstand haben. (Im Unterschied
dazu hat es Marx mit einem „äußeren Gegenstand“ zu tun, der
kapitalistischen Produktionsweise. Allein mit dieser Feststellung lässt sich
wohl kaum auf eine Trennung von Methode, Kritik und Inhalt schließen.) Wer nun
glaubt, die Hegelschen Kategorien beliebig „anwenden“ zu können, sitzt deshalb
zunächst einmal einem grundsätzlichen Missverständnis Hegelscher Philosophie
auf. Derselbe Punkt wird im übrigen auch von Marx in der Erstauflage des Kapital
hervorgehoben (wo er mit Hegelschen Begriffen nicht nur „kokettiert“, sondern
sie auch beiläufig kritisiert). Dort schreibt er: „Blos der Hegelsche ‚Begriff’
bringt es fertig, sich ohne äussern Stoff zu objektiviren“ (MEGA II. Abt.,
Bd.5, S.31).
Ich hatte nicht nur bestritten, dass Marx die
Hegelsche Dialektik „angewendet“ hat, ich versuchte vielmehr deutlich zu
machen, dass ein solches Verfahren überhaupt nicht möglich ist - was mir den
Vorwurf von Birkner eintrug, ich eliminiere den Einfluss Hegels auf die Marxsche
Theorie. Daraus könnte man nun schließen, dass sich Birkner diesen Einfluss nur
in Gestalt der von mir kritisierten „Anwendung der Dialektik“ vorstellen kann.
Am Ende seines Aufsatzes heißt es dann aber einigermaßen überraschend: „Die Hegelsche
Dialektik kann nicht von ihrem Inhalt separiert und einfach ‚umgestülpt’ werden“
(38) so dass unklar bleibt, worin seine Kritik jetzt überhaupt noch besteht.
Den Einfluss der Hegelschen Philosophie auf Marx’
Kritik der politischen Ökonomie habe ich - entgegen der Behauptung von Birkner
- in meinem Buch keineswegs bestritten: nur sehe ich diesen Einfluss nicht
darin, dass Argumentationsfiguren übernommen oder Kategorien angewendet wurden,
sondern darin, dass Marx hinter einen bestimmten, bei Hegel erreichten Stand
der Problemstellung nicht mehr zurückgehen kann (Wissenschaft vom Wert,
S.170f). Diesen Punkt (der im übrigen einen grundsätzlichen Unterschied zur Position
von Althusser markiert) habe ich allerdings nicht im Detail ausgeführt, denn
eine ernsthafte Diskussion hätte zunächst einmal eine umfassende Hegelinterpretation
vorausgesetzt.
3. Geschichte und Kategorien
Mit meiner Skizze dessen, was „dialektische
Darstellung“ bei Marx meint, setzt sich Birkner nur sehr selektiv auseinander.
Er greift sich einen Punkt heraus, die Frage nach der Historizität der
Kategorien und wirft mir (als Erbschaft des Strukturalismus) die Enthistorisierung
der Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie vor: von mir werde „jeder
Versuch, die Kategorien der politischen Ökonomie (und auch jene der Kritik)
auch als historisch gewordne und veränderbare zu begreifen, abgelehnt“ (33), so
dass der Vorwurf des Ahistorismus, den ich gegenüber Klassik und Neoklassik
erhebe, auf mich selbst zurückfalle (33).
Besonders die letzte Bemerkung macht deutlich, dass
Birkner zwei ganz verschiedene Ebenen, auf denen von der Historizität der Kategorien
die Rede ist, nicht auseinander hält. Der Ahistorismus von Klassik und
Neoklassik besteht darin, dass sie die gesamte ökonomische Geschichte auf
überhistorische Grundtatbestände reduzieren: Für die Klassik sind Tausch und
Wert (für die Neoklassik Nutzenmaximierung und rationale Wahl) überhistorische
Kategorien, gleichermaßen gültig für die Ökonomie eines Neandertalers, der Antike
oder des modernen Kapitalismus. Historisch unterschiedlich sind lediglich die
technischen Bedingungen, unter denen produziert wird, und die staatlichen oder
gesellschaftlichen Regulierungen, die dem Wirken des Marktes Fesseln anlegen
oder nicht. Demgegenüber unterscheidet Marx historisch spezifische
Produktionsweisen mit je eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren Formbestimmungen
gesellschaftlicher Produktion. Antike, feudalistische und kapitalistische Produktionsweise
lassen sich nicht auf ein gemeinsames Problem des Wirtschaftens reduzieren.
Insofern sind die Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie historische
Kategorien, Ausdruck historisch gewordener und auch veränderbarer
gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht etwa Ausdruck der Struktur einer
allgemein menschlichen „Wirtschaft“.
Die Frage nach der Historizität der Kategorien kann
man aber noch auf einer engeren Ebene stellen: kapitalistische Gesellschaften haben
selbst eine Geschichte, die kapitalistische Produktionsweise entwickelte sich
zunächst innerhalb eines vorkapitalistischen Milieus, das es schließlich
aufsprengte und seiner eigenen Logik unterwarf. Der Kapitalismus besitzt eine
Entstehungs- und Durchsetzungsgeschichte und die Frage ist, ob und inwiefern
die Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie diese Geschichte zum
Ausdruck bringen.
Marx selbst äußerst sich über seine Absichten in
diesem Punkt ziemlich deutlich. Im Vorwort zur ersten Auflage des ersten
Kapital-Bandes schreibt er über seinen Gegenstand, es handle sich dabei
„nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen
Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion
entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst“ (MEW 23, S.12) und im
dritten Band bestimmte er das, was er darstellen wolle, als „die innere Organisation
der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt“
(MEW 25, S.839) - alles Absagen an eine Darstellung der historischen Entwicklung
des Kapitalismus.[10]
Dargestellt werden soll, daran lässt Marx keinen Zweifel, der fertig entwickelte
Kapitalismus. Nicht die historische Entstehung von Geld oder Kapital ist sein
Gegenstand; sondern die Beziehung von Warenform des Arbeitsprodukts, Geldform
des Werts und Kapital innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Dabei
ist die Darstellung nicht einfach eine Aneinanderreihung von Themen, deren
Reihenfolge von didaktischen oder modelltheoretischen Aspekten diktiert wird
(wie in den modernen Darstellungen neoklassischer oder keynesianischer
Theorie), vielmehr folgt die Darstellung einer „dialektischen Entwicklung“ der
Kategorien (näheres dazu in der Wissenschaft vom Wert, S.171ff), die
zeigen soll, dass die zuerst dargestellte Kategorie die nächste notwendig
macht: dass etwa die Warenform des Arbeitsprodukts die im Geld verselbständigte
Gestalt des Werts zwingend erfordert, dass das eine nicht ohne das andere
existieren kann (Geld also nicht einfach nur ein technisches Hilfsmittel ohne
theoretische Relevanz ist, wie die Neoklassik meint, und dass erst recht keine
Warenproduktion ohne Geld möglich ist, wie die Proudhonschen Sozialisten
glaubten).
Neben (oder außerhalb) dieser dialektischen
Darstellung der Kategorien des entwickelten Kapitalismus finden sich im Kapital
aber auch noch eindeutig historische Passagen. Dazu zitiert Birkner aus meinem
Buch den Satz, „Auch wenn die dialektische Entwicklung nicht die einzige Form
der Darstellung ist, so dominiert sie doch gewissermaßen die historischen
Teile“ (Wissenschaft vom Wert, S.177) und fährt dann fort: „Da soll sich
eineR auskennen. Die Dialektik dominiert Aspekte der Darstellung, die außerhalb
ihrer Reichweite liegen?!“ und sieht dann auch gleich wieder meinen „Wunsch,
eine Art ‚enthistorisierte Dialektik’ als gegenstandsexterne Forschungs- und
Darstellungsmethodik zu erhalten“ (34) am Werk. Abgesehen von meinen Wünschen
(die bespreche ich nur mit dem Weihnachtsmann) geht es bei der Dominierung der
historischen durch die dialektische Darstellung, die Birkner so aufstößt, um
folgendes. Allein schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis des Kapital
zeigt, dass die historischen Teile der Darstellung recht merkwürdig angeordnet
sind, wenn man es als historisches Werk lesen will. Im ersten Band wird im
vierten Kapitel die „allgemeine Formel des Kapitals“ und ihre sachliche Grundlage,
die Ausbeutung, entwickelt; die Herausbildung des modernen Kapitalismus bzw.
einige Aspekte davon werden erst im 24. Kapitel „Die sog. ursprüngliche Akkumulation“
behandelt. Davor war im Rahmen des 8. Kapitels bereits vom „Kampf um den
Normalarbeitstag“ die Rede, wie er im 19. Jahrhundert, also unter entwickelten
kapitalistischen Verhältnissen, geführt wurde. Und erst gegen Ende des dritten
Bandes wird im 47. Kapitel die „Genesis der kapitalistischen Grundrente“
behandelt, ein Thema das historisch in enger Beziehung zur „ursprünglichen
Akkumulation“ steht. Die Ordnung der historischen Teile des Kapital kann
also kaum durch die Historie bestimmt sein. Meine These war, dass die
dialektischen Teile der Darstellung auch die Ordnung der Darstellung der historischen
Teile bestimmen (insofern „dominiert“ die dialektische Darstellung die
historische): die historischen Darstellungen folgen erst dann, wenn die
dialektische Darstellung der Kategorien einen gewissen Abschluss erreicht hat
(die ursprüngliche Akkumulation nach der allgemeinen Formel des Kapitals und
der Darstellung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, die Genesis der
kapitalistischen Grundrente nach der Darstellung von absoluter und Differentialrente,
das vorkapitalistische Wucherkapital nach der Darstellung des kapitalistischen
Kreditwesens etc.), denn erst dann ist klar, was im historischen Prozess
inhaltlich überhaupt relevant ist. Das alte Vorurteil jedes Geschichtslehrers,
man müsse die Geschichte kennen, um die Gegenwart zu verstehen, mag zwar auf
der Ebene der reinen Ereignisgeschichte seine Berechtigung haben, für die Struktur
der Gesellschaft gilt allerdings die von Marx metaphorisch formulierte
Einsicht: „Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen.
Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur
verstanden werden, wenn das Höhere schon bekannt ist“ (MEW 42, S.39).
Dass die Marxsche Darstellung trotzdem als eine im
wesentlichen historische bzw. als Einheit von historischer und begrifflich-logischer
rezipiert wurde, geht vor allem auf Engels und einen der grundlegenden
Glaubenssätze des Weltanschauungsmarxismus zurück, dass es zwischen Marx und
Engels keinerlei inhaltliche Differenzen gegeben haben soll. Eine historisierende
Lesart präsentierte Engels in seiner Rezension von Zur Kritik
sowie in seinem Nachtrag zum 3. Band des Kapital. In der
Rezension hatte Engels geschrieben, die logische Darstellung der Kategorien sei
„in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen
Form und der störenden Zufälligkeiten“ (MEW 13, S.474). Und in jenem Nachtrag
interpretierte Engels die Darstellung von Ware und Geld in den ersten drei
Kapiteln des ersten Kapital-Bandes als Darstellung der Grundstruktur
einer der kapitalistischen Warenproduktion historisch vorausgehenden Phase der
„einfachen Warenproduktion“ (MEW 25, S.906ff). Vor allem die Rezension,
die Marx im Gegensatz zu dem Nachtrag ja kannte, wird als unumstößlicher
Beleg für die Einheit von historischer und logischer Darstellung genommen. Allerdings
hat sich Marx zu dieser Rezension niemals geäußert, weder hat er sie in
seinen Briefen erwähnt, noch hat er sie an irgendeiner Stelle zitiert. Da er
ansonsten die ökonomischen Arbeiten seines Freundes Engels wo immer möglich zitierte
(und sich ein solches Zitat im Vorwort zur ersten Auflage des Kapital
geradezu angeboten hat), ist dieses Schweigen zumindest ein Indiz für seine
kritische Haltung.[11]
Und dass die Darstellung der ersten drei Kapitel nichts mit einer „einfachen
Warenproduktion“ zu tun hat (ganz abgesehen, dass es auch historisch höchst
fragwürdig ist, eine solche Epoche zu unterstellen), macht bereits der erste
Satz des Kapital deutlich: die Ware soll als Elementarform des Reichtums
in Gesellschaften, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (MEW
23, S.49) analysiert werden. Nicht eine vorkapitalistische „einfache
Warenproduktion“ wird dargestellt, sondern die „einfache Zirkulation“ als
„abstrakte Sphäre des bürgerlichen Gesammtproductionsprocesses“ (MEGA II.Abt.,
Bd.2, S.68).
Die historisierende Lesart wurde von Kautsky und
Lenin ins Zentrum des weltanschaulichen Marxismus gestellt. Statt einer Dechiffrierung
der Logik der Formbestimmungen des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die
einerseits in der Krisenhaftigkeit dieses Zusammenhangs,[12]
andererseits in der Darstellung des Fetischismus und der „Trinitarischen
Formel“ am Ende des dritten Bandes kulminiert (wo die gemeinsamen Grundlagen
von Alltagsbewusstsein wie bürgerlicher ökonomischer Theorie aus der spezifischen
Form der Vergesellschaftung entwickelt wird), erscheint das Marxsche Kapital
als eine begrifflich orientierte Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus, in
deren Zentrum der Nachweis der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen steht.
Kritisiert wird dann nicht mehr in erster Linie die Form der über den Wert
vermittelten Vergesellschaftung, sondern eine „ungerechte“ Verteilung; Sozialismus/Kommunismus
besteht dann in erster Linie in einer gerechteren Verteilung, wobei man sogar
auf die Idee kam, innerhalb der „sozialistischen Wirtschaft“ das Wertgesetz
„bewusst anzuwenden“. Indem statt der spezifischen, über den Wert vermittelten
Gesellschaftlichkeit, Verteilung und Ausbeutung ins Zentrum rücken, liefert die
historisierende Lesart einer spezifischen Enthistorisierung Vorschub: die ins
Zentrum gerückte Ausbeutung ist ja keineswegs ein für den Kapitalismus
spezifischer Tatbestand. Spezifisch sind vielmehr die Formbestimmungen, in
denen sich Ausbeutung vollzieht - als Äquivalententausch zwischen formell
freien und gleichen Warenbesitzern. Im Unterschied dazu ist es gerade die von
Birkner als „enthistorisiert“ aufgefasste Darstellung des entwickelten
Kapitalismus, welche die spezifischen Formbestimmungen und damit das am
Kapitalismus historisch spezifische zum Ausdruck bringt.[13]
4. „Menschliches Gattungswesen“ und „Subjekt“
In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten
von 1844 operiert Marx extensiv mit der Vorstellung eines „menschlichen Gattungswesens“
und der „Entfremdung“ von diesem Gattungswesen im Laufe der Geschichte, eine
Entfremdung, die ihren Höhepunkt im Kapitalismus erreicht; Kommunismus ist dann
die Aufhebung dieser Entfremdung. In der Debatte um Marx ist nun einerseits umstritten,
ob dies eine philosophisch-spekulative Konstruktion ist, die er später
aufgegeben hat, oder ob es sich bereits um ein erstes Ergebnis wissenschaftlicher
Kapitalismuskritik handelt, das auch noch für die späteren Schriften zur Kritik
der politischen Ökonomie (den Grundrissen von 1857/58, den ab 1863/64
entstandenen Manuskripten zum Kapital etc.) Gültigkeit besitzt.
Die Frage, ob die Entfremdungskonzeption auch noch im
Kapital eine Rolle spielt, konnte allerdings nur deshalb aufgeworfen werden,
weil sie dort explizit nicht mehr auftaucht: Hätte Marx den Entfremdungsbegriff
im Kapital ähnlich emphatisch benutzt wie in den Frühschriften, wäre die
Antwort klar. Doch ist im Kapital von einer Entfremdung des Menschen von
seinem Gattungswesen an keiner einzigen Stelle die Rede. Beiläufig verwendet
Marx an wenigen Stellen den Ausdruck „entfremdet“, aber nur in einem ganz allgemeinen
Sinn und ohne jeden Bezug auf ein „menschliches Gattungswesen“. Bevor die Ökonomisch-philosophischen
Manuskripte zu Beginn der 30er Jahre veröffentlicht wurden (also fast 70
Jahre nach dem ersten Band des Kapital) kam niemand auf die Idee im Kapital
nach einer Theorie des menschlichen Wesens und der Entfremdung zu suchen. Dies
geschah erst nach dieser Veröffentlichung - und zwar in einem ganz bestimmten
Kontext: durch die Bezugnahme auf die Entfremdungskonzeption wurde versucht,
die vorherrschende ökonomistische Interpretation des Kapital zu
kritisieren. So ehrenwert dieses Ziel auch war (und ist), so fragwürdig war auf
der anderen Seite das Mittel.
In meinem Buch versuchte ich deutlich zu machen, dass
die Vorstellungen vom „Wesen des Menschen“ und der Entfremdung, wie sie von Marx
1844 formuliert werden, genau dem theoretischen Feld verhaftet bleiben, dessen
Kritik konstitutiv für sein späteres Unternehmen einer „Kritik der Politischen
Ökonomie“ ist. Birkner will diese Wesensphilosophie retten, indem er einerseits
betont, Marx habe das menschliche Wesen sowohl als gesellschaftliches als auch
als historisch gewordenes und veränderbares verstanden, und andererseits das
Fortleben der Entfremdungskonzeption in der Analyse des Warenfetischismus
behauptet.
Dass Marx das menschliche Wesen als historisch
veränderbares aufgefasst habe, wird zwar immer mal wieder behauptet, doch ist
dies anhand von Marxschen Äußerungen nur schwer plausibel zu machen. Auch
Birkner verzichtet auf die Angabe solcher Äußerungen. Aber unabhängig davon, ob
man eine Marxsche Aussage in diesem Sinne interpretieren kann oder nicht, wäre
es interessant zu erfahren, worin das menschliche Wesen früher bestanden
hat und worin es heute besteht - spätestens beim Versuch diese Frage zu
beantworten wird sich wohl die Unhaltbarkeit dieser Vorstellung zeigen.
Dass Marx das menschliche Wesen als
gesellschaftliches bestimmt, ist zwar richtig, aber weder überraschend noch
besonders originell. Auch Adam Smith hatte, indem er den „Hang zum Tausch“ als
die entscheidende Eigenschaft des Menschen auffasste, das menschliche Wesen
bereits als ein gesellschaftliches bestimmt. Was ich als „Individualismus“ des
theoretischen Feldes, auf dem die Wesensphilosophie steht, bezeichnet habe (und
was Birkner kritisiert), bezieht sich nicht darauf, dass die Wesensvorstellung
ungesellschaftlich sei, sondern darauf, dass die reale Gesellschaftlichkeit als
Ausfluss dieses Wesens, bzw. der Entfremdung davon aufgefasst wird. D.h. es
geht bei der Kritik nicht um den jeweiligen Inhalt des menschlichen Wesens,
sondern um die Struktur der auf ihr fußenden Gesellschaftstheorie: aus
einem dem Menschen eigenen, inneren Wesen soll Gesellschaft erklärt werden.
In der Deutschen Ideologie (1845) kritisiert
Marx die Vorstellung eines „menschlichen Wesens“ in diesem Sinne ganz
grundsätzlich: „Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen
Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes
vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ‚Substanz’
und ‚Wesen des Menschen’ vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben“
(MEW 3, S.38, vgl. auch S.69, 75, 167). Marx kritisiert hier nicht eine
bestimmte Konzeption vom menschlichen Wesen, sondern diese Konzeption selbst,
unabhängig von ihrem konkreten Inhalt: Was die Philosophen als „Wesens des
Menschen“ auffassen, ist nur die (unbegriffene) Verallgemeinerung und
Überhöhung von Vorstellungen, die auf einer bestimmten gesellschaftlichen
Grundlage erzeugt werden und die auf dieser Grundlage auch ganz plausibel erscheinen:
historisch spezifische gesellschaftliche Beziehungen werden zu
„Wesenseigenschaften“ des Menschen hypostasiert, um anschließend aus diesem
Wesen Gesellschaft zu erklären. Dass mit den kritisierten Vorstellungen der
„Philosophen“ auch die eigenen früheren Ansichten gemeint sein dürften, geht
aus dem Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) hervor,
wo Marx über die (gemeinsam mit Engels verfasste) Deutschen Ideologie schreibt,
es sei darum gegangen „mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen
abzurechnen“ (MEW 13, S.10).
Die explizite Kritik an der Wesensphilosophie wie
auch der Verzicht auf Aussagen über „menschliches Gattungswesen“ und „Entfremdung“
im Kapital ist kaum zu bestreiten. Wer trotzdem der Meinung ist, dass
solche Vorstellungen auch noch im Kapital von Bedeutung sind, lädt sich
daher eine erhebliche Beweislast auf. Birkner deutet an, dass er eine solche
Bedeutung bei Marx’ Analyse des Warenfetischs sieht (32), ohne dies allerdings
weiter auszuführen. Beim Warenfetisch geht es aber kurz gesagt darum, dass
(bestimmte) gesellschaftliche Beziehungen der Menschen in einer Waren produzierenden
Gesellschaft als sachliche Eigenschaften der Waren erscheinen und dass dies ein
von der Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenhangs notwendig
hervorgebrachter Schein ist (also weder subjektiver Irrtum noch gewollte
Manipulation). Diese ganze Analyse des Fetischismus kommt jedoch ohne
irgendeinen Bezug auf ein menschliches Wesen oder die Entfremdung davon aus.
Warum wird aber so vehement (nicht nur von Birkner)
für die Wesensphilosophie gestritten? Anscheinend weil man annimmt, nur so
könne die Marxsche Theorie vor Objektivismus und Positivismus bewahrt[14]
und „den Menschen“ oder „der Subjektivität“ ein Platz in der Theorie gesichert
werden. Dementsprechend harsch fällt dann auch Birkners Reaktion auf den bekannten
(und von mir zustimmend zitierten) Satz Althussers aus, Geschichte sei ein
„Prozess ohne Subjekt“. Für Birkner sind damit die „wirklichen Menschen aus dem
geschichtlichen Prozess“ (36) ausgeschlossen.
Was das Verhältnis von Menschen und Geschichte
angeht, konstatiert Birkner bei mir zunächst nur eine „ambivalente Herangehensweise“,
um nach der Zusammenstellung von vier kurzen Zitaten, in denen u. a. davon die
Rede ist, dass Menschen die wirkliche Geschichte machen, dass aber die Geschichte
kein Subjekt hat, zum Ergebnis zu kommen: „Mensch, Subjekt, Individuum“ ein
einziges „Durcheinander“ (33). Dass mit „Mensch“ und „Subjekt“ verschiedenes
gemeint sein könnte, über das dann auch unterschiedliche Aussagen gemacht werden
müssen, kommt Birkner anscheinend nicht in den Sinn. Genauso wenig wird, wenn
die strukturalistische Verabschiedung des „Subjekts“ kritisiert wird, die Frage
gestellt, um welches „Subjekt“ es sich dabei eigentlich handelt.
Kritisiert wird (von Althusser, aber auch von
Foucault - und nicht zuletzt auch von Marx) die philosophische Apotheose des
freien Warenbesitzers: der selbstbestimmte, freie Mensch, der die Welt aus sich
heraus erschafft - dies alles ist im Begriff des „Subjekts“ eingeschlossen.[15]
Diese überhöhte Vorstellung eines autonomen, nur in sich selbst gründenden
Subjektes, findet sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert in unterschiedlichen
Ausprägungen in philosophischen, politischen und ökonomischen Diskursen. Von
dieser Vorstellung war auch die von Marx 1844 vertretene Konzeption des „Wesens
des Menschen“ nicht frei, in gewisser Weise könnte man sie sogar als Höhepunkt
der Vergötterung des „Subjekts“ auffassen. Marx löst sich von dieser
Subjektvorstellung nur schrittweise. Das berühmte Zitat aus dem 18. Brumaire,
auf das auch Birkner in seinem Artikel abhebt, stellt dabei nur den ersten
Schritt dar: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie
nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter
unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 8,
S.115). Demnach könnte man sich immer noch vorstellen, die Menschen seien in
ihrem Innern (in ihrem „Wesen“) voll von Freiheit und Autonomie, nur außen gibt
es leider ein paar Hindernisse. Der Witz ist aber, dass eine solche Trennung
von „innen“ und „außen“ gar nicht zu machen ist. Dies wird deutlicher in den Grundrissen,
wo die historische Herausbildung von Individualität (die gerade nichts
unmittelbar Gegebenes, den Menschen inne wohnendes ist) ein immer wieder
auftauchendes Thema ist und wo Marx in einer Auseinandersetzung mit Proudhon erklärt:
„Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der
Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn“ (MEW
42, S.189). Im Kapital hält Marx bereits im Vorwort fest, dass ihm bei
der Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Personen nur als
„Personifikation ökonomischer Kategorien“ gelten, später benutzt er dann den berühmt
gewordenen Ausdruck von der „Charaktermaske“ - implizit enthalten diese (und
eine ganze Reihe weiterer) Äußerungen eine fundamentale Kritik des „Subjekts“,
ohne dass sie von Marx unter einen solchen plakativen Titel gestellt worden
sind. Dieser Kritik des Subjekts folgt auch der Aufbau der Darstellung im Kapital:
stets werden zunächst Formbestimmungen ökonomischer Kategorien analysiert und
erst danach, auf dieser Grundlage das Handeln und zum Teil auch die Bewusstseinsformen
der Personen. Besonders deutlich wird dies in der Abfolge von Kapitel eins und
zwei des ersten Bandes: zunächst geht es um die Formbestimmungen der Ware und
erst im zweiten Kapitel um das „freie“ Handeln der Warenbesitzer, das genau diesen
Formbestimmungen folgt.
Es geht also keineswegs darum, dass „die Menschen“
aus der Marxschen Theorie eliminiert werden,[16]
sondern darum, in welcher Weise sie darin enthalten sind: als innerlich freies,
autonomes Subjekt, das von den Umständen gefesselt wird oder auch als von seinen
Gattungswesen entfremdetes Subjekt, oder aber als Menschen, bei denen eine
solche Trennung zwischen einem inneren Wesen und der äußeren einschränkenden
Bestimmung gar nicht zu machen ist, also um Menschen, die nicht nur in ihrer
„Unfreiheit“, sondern gerade auch in ihrer „Freiheit“ von den
gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht werden, so dass sich die Frage,
ob die Menschen denn (innerlich) frei seien, oder ob sie gänzlich von den
äußeren Verhältnissen bestimmt werden, als Scheinfrage entlarvt, da sie auf
einer falschen Voraussetzung beruht. Wie nun die bei Marx angelegte Kritik des
Subjekts weiter zu entwickeln ist, ist eine ganz andere Frage. Jedenfalls ist
die von Birkner angeführte und kritisierte Althussersche Ideologietheorie (auf
die ich mich in meinem Buch an keiner einzigen Stelle beziehe) bestimmt nicht
die einzige Möglichkeit dazu.
Mit dem Satz von der Geschichte als „Prozess ohne
Subjekt“ wird aber noch ein anderer Subjektbegriff kritisiert: die Übertragung
des Subjektbegriffs auf ein Kollektiv wie etwa eine Klasse, so dass, wenn schon
nicht der einzelne Proletarier, dann wenigstens „das Proletariat“ Subjekt sein
soll. Wie der zustimmende Verweis auf Georg Lukács (das klassenbewusste Proletariat
als ein zur Wahrheit fähiges Erkenntnissubjekt, 36) andeutet, scheint Birkner
mit dieser Konstruktion keine Probleme zu haben. Lukács selbst war sich über
die Probleme dieser Konstruktion schon eher klar, er wusste immerhin, dass sich
das Proletariat als Subjekt vom empirischen Proletariat erheblich unterschied,
die reale Existenz von dessen Subjekthaftigkeit sah er deshalb in der Partei
des Proletariats verkörpert - eine „Subjektivität“, die historisch noch
erhebliche Probleme mit sich brachte.
5. Wissenschaft und Ideologie, Theorie und Praxis
Im letzten Teil seines Aufsatzes kritisiert Birkner
meine Aussage, dass es zwar einen „wissenschaftlichen Sozialismus“, aber keine
„sozialistische Wissenschaft“ geben könne (36, Wissenschaft vom Wert,
S.384). Er sieht darin eine „unvermittelte Trennung von Ideologie und Wissenschaft“,
die zum einen in Widerspruch zur Einleitung meines Buches stehen würde, in der
ich auf den nicht vermeidbaren interpretativen und konstruktiven Charakter
jeder Wissenschaft verwiesen hatte. Zum anderen würde meine Ablehnung sozialistischer
Wissenschaft keinen Raum mehr für die Geisteswissenschaften lassen, da diese zu
eng mit Weltanschauungen verzahnt seien und demnach, um der Einheitlichkeit der
Wissenschaft willen, aus dem Wissenschaftsbereich ausgeschlossen werden müssten
(37).
Birkner wirft hier zwei ganz verschiedene Probleme
durcheinander. In der Einleitung meines Buches versuchte ich deutlich zu machen,
dass es die Wissenschaften nie mit einem unmittelbar gegebenen Objekt zu
tun haben, welches sie dann nur richtig untersuchen müssten, dass die Objekte
der Wissenschaft vielmehr immer schon im Erkenntnisprozess produzierte sind,
d.h. dass sie sich nicht abtrennen lassen, von Problematiken und theoretischen
Feldern, innerhalb denen sie überhaupt erst als Objekte formiert werden.
Während es in den Geistes- und Sozialwissenschaften
mehr oder weniger klar war, dass ihre Untersuchungsobjekte nie einfach so gegeben
sind, schien die Situation in den Naturwissenschaften grundsätzlich anders zu
sein. Autoren wie Popper entnahmen ihr Wissenschaftsideal einem (angeblich)
objektiven Erkenntnisprozess der Naturwissenschaften, dessen Ergebnis zumindest
im Prinzip von jeder Ideologie, Weltanschauung oder Interessiertheit der
Forscher unabhängig sei und erklärten dies zur Norm für jede Wissenschaft. Nun
zeigten aber neuere Untersuchungen der Wissenschaftsgeschichte gerade der
Physik (der „härtesten“ aller exakten Naturwissenschaften), dass sich auch dort
die klare Trennung in objektive, empirische überprüfbare Erkenntnis und
nicht-empirisch prüfbare Weltbilder gar nicht ziehen ließ: wie vor allem die
Studien von Thomas Kuhn deutlich machten, funktioniert auch die Physik keineswegs
so, wie sich Popper und andere das vorstellten (wie man selbst bei oberflächlicher
Lektüre meines Textes unschwer erkennen kann, findet keineswegs die von Birkner
behauptete „Anrufung“ des Anti-Marxisten Popper statt, sondern seiner
Kritiker). Auch die Physik war von „Paradigmen“ (d.h. der empirischen Erkenntnis
vorgelagerten Mustern und Annahmen) gesteuert. „Objektivität“ war nur innerhalb
eines Paradigmas möglich, verschiedene Paradigmen sind aber gar nicht
unmittelbar empirisch vergleichbar, so dass auch wissenschaftliche
Revolutionen, die zur Ablösung von Paradigmen führen, nicht allein mit empirischem
Erkenntniszuwachs zu begründen sind. Außerhalb von wissenschaftlichen Revolutionen
werden die herrschenden Paradigmen von den beteiligten Forschern als ganz
selbstverständliche und offensichtliche Auffassung „der Sachen selbst“
unterstellt. Damit, so versuchte ich deutlich zu machen, verweisen diese
Paradigmen und theoretischen Felder auf das, was Marx als „objektive Gedankenformen“
bezeichnete: dass innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhangs
bestimmte Weisen der Anschauung, der Strukturierung und Formierung von Objekten
als so selbstverständlich erscheinen, dass diese Formierung selbst zum Objekt
zu gehören scheint (so wie „Wert“ in der bürgerlichen Gesellschaft nicht als
verdinglichter Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses, sondern als
quasi-dingliche Eigenschaft gilt). Deutlich zu machen, dass Wissenschaft (und
zwar gleichermaßen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaft), nicht einfach
„gegebene“ empirisch Objekte erfasst, sondern dass die Konstitution dieser
Objekte immer schon nicht-empirische Elemente einschließt, war das eine der beiden
von Birkner konfundierten Probleme.
Dass sich Wissenschaft nicht auf empirisch
Überprüfbares reduziert, heißt nun aber nicht (und das ist das zweite Problem),
dass dann nur eine Standpunktlogik übrig bliebe. Paradigmen und theoretische
Felder sind nicht einfach (wie Birkner anscheinend meint) ideologischer
Ausdruck von Interessen. Innerhalb desselben theoretischen Feldes artikulieren
sich vielmehr ganz unterschiedliche Interessen. So hatten auch die Proudhonschen
Sozialisten das Interesse den Kapitalismus abzuschaffen, nur verblieb ihre Analyse
des Kapitalismus gänzlich innerhalb des gleichen theoretischen Feldes, in
welchem auch die klassische politische Ökonomie (bei der ganz andere Interessen
im Spiel waren) existierte; der Proudhonsche Sozialismus war ein Sozialismus,
der über die Vorstellung vom Menschen als Warenbesitzer nicht hinauskam. An
diesem Beispiel zeigt sich auch, dass das „sozialistische“ Interesse überhaupt
kein Garant für irgendwelche Einsichten ist. Wer glaubt, dass aus einem
sozialistischen Standpunkt tatsächlich spezifische Erkenntnisse
folgen und nicht einfach nur das Zurechtbiegen von Ergebnissen, kann sich
jedenfalls nicht auf Marx berufen, der mit Bezug auf Malthus, schrieb: „Einen
Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtümlich
sie immer sein mag), sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen
Interessen entlehnten Standpunkt zu akkomodieren sucht, nenne ich ‚gemein’“
(MEW 26.2, S. 112, Hervorhebungen im Original).
Wie sich nun Birkner eine sozialistische Wissenschaft
vorstellt, macht er mit der Anwendung der von Althusser übernommenen Idee deutlich,
dass in der „spontanen Philosophie der Wissenschaftler“ (SPW), d.h. in der mehr
oder weniger deutlichen Reflexion der Wissenschaftler über ihre Tätigkeit, ein
beständiger Kampf zwischen einem „materialistischen“ und einem „idealistischen“
Element stattfinde. Was sich Althusser hier unter materialistisch bzw. idealistisch
vorstellt, verschweigt Birkner den LeserInnnen seines Artikels allerdings.
„Materialistisch“, so Althusser, sei die Überzeugung von der materiellen
Existenz des Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis, sowie die Überzeugung
von deren Objektivität, „idealistisch“ dagegen seien sämtliche Reflexionen auf
die wissenschaftliche Praxis, bei denen z.B. die Objektivität der Erkenntnis
hinterfragt wird. Idealistisch ist demnach bereits das Stellen einer falschen
Frage. Der weltanschauliche Marxismus Lenins und des Marxismus-Leninismus, bei
dem man einfach von bestimmten Voraussetzungen auszugehen hat, feiert hier
fröhliche Urständ. Dass ich mit solchen Konzepten nichts am Hut habe, hat
Birkner völlig richtig erkannt. Was ich mit ihnen gewinnen könnte, beschreibt
er folgendermaßen: „Die ‚Anrufung’ Karl Poppers würde Althusser mit Recht als
eindeutigen Sieg des idealistischen Elements der SPW über das materialistische
bezeichnen. Da Heinrich den Gegensatz materialistisch/idealistisch nicht
verwendet, verbaut er sich die Chance einer methodologischen Selbstreflexion.“
(37)
Dass meine angebliche „Anrufung“ Poppers einer nicht
allzu sorgfältigen Lektüre Birkners entspringt, habe ich oben schon deutlich gemacht.
Hier geht es aber um etwas anderes: das einzige was Birkner an kritischen
Argumenten gegen Popper in dem Artikel vorgebracht hat, ist, dass er
„Anti-Marxist“ sei und die Funktion des „Gegensatzes
materialistisch/idealistisch“ hätte wohl vor allem darin bestanden, mich vor
dem Bezug auf einen „Anti-Marxisten“ zu bewahren. Wenn wissenschaftliche
Einsichten tatsächlich in erster Linie vom „Interesse“ des Wissenschaftlers
abhängen würden, dann wäre es durchaus konsequent um Autoren, die ein anderes
Interesse haben, einen großen Bogen zu machen. In der Tat war dies die
Strategie vieler Vertreter des dogmatischen Parteimarxismus (im Osten wie im
Westen): nicht-marxistische Wissenschaft war „bürgerlich“, daher per Definition
falsch, verzerrt und borniert und lediglich zu denunzieren. Dass es irgendetwas
gäbe, was man auch von nicht-marxistischer Wissenschaft lernen könnte, lag -
ganz im Gegensatz zu Marx, der jede Menge von bürgerlichen Autoren lernte -
außerhalb der Vorstellungskraft dieser Parteimarxisten. Was man da lernen kann,
ist allerdings von ganz unterschiedlicher Qualität: von Popper allenfalls das
Scheitern eines bestimmten Versuchs Objektivität zu sichern, von Gadamer (auf
den ich mich in meinem Buch nur in einer einzigen Fußnote beziehe - was für
Birkner aber offensichtlich schon zu viel war) lässt sich in der Tat einiges
lernen - obwohl er nicht nur in seinen politischen Äußerungen konservativ ist,
sondern sich dieser Konservativismus auch in seiner philosophischen
Argumentation niedergeschlagen hat. Sich positiv auf einen Autor beziehen, eine
bestimmte Erkenntnis von ihm zu übernehmen, heißt ja nun keineswegs, dass man
deshalb schon alle Kritikfähigkeit gegenüber diesem Autor aufgibt. Ein
Marxismus aber, der um „Anti-Marxisten“ prinzipiell immer nur einen
großen Bogen macht, wird zwangsläufig inhaltlich verkümmern und für jede Praxis
unbrauchbar werden.
Damit sind wir beim letzten Vorwurf, den Birkner dem
Strukturalismus und damit auch mir macht, den Ausschluss der Praxis. Über mich
schreibt Birkner: „Die strukturale Methode, der er sich bedient, verbessert zwar
die wissenschaftliche Präzision, tilgt bzw. verschweigt aber das Element der
Praxis zugunsten jenem der Wissenschaftlichkeit“ und dies, so bemerkte Birkner
schon einige Absätze früher, „bringt uns hinter die elfte Feuerbachthese von
Marx zurück zur verschiedenen Interpretation, welcher die Veränderung
nachgeordnet wird“ (38, Hervorhebung im Original).
Bevor ich zu dem etwas überraschenden Gegensatz von
verbesserter wissenschaftlicher Präzision und Praxis komme, zunächst ein Wort
zur elften Feuerbachthese. Diese wurde immer wieder gerne angeführt, sowohl von
Aktivisten, die es zur Tat drängt und die sich von den ewig nörgelnden Theoretikern
immer nur aufgehalten fühlen, wie auch von den autoritären Parteien des
Staatssozialismus, die sich u.a. damit ihre linken Kritiker vom Leibe halten
wollten (die SED ließ diesen Satz sogar im Foyer der Berliner Humboldt-Universität
eingravieren). Aufgefasst als zeitlos gültige Aussage wird der Kontext, in
welchem Marx diese These im Jahre 1845 formulierte, geflissentlich ausgeblendet:
als Kritik an den Junghegelianern, die glaubten, der bisherigen Gesellschaft
nur die Maske herunterreißen zu müssen (sie anders zu interpretieren), damit
diese dann auch tatsächlich zusammenbreche. Diesem Kontext entrückt wird nun
ein Gegensatz von Interpretation (Theoriebildung) und verändernder Praxis aus
dieser These herausgelesen,[17]
und so getan als könne der pauschale Verweis auf das Ziel „Veränderung“ irgendetwas
zur Lösung der Frage beitragen, ob bestimmte Theorien für diese Veränderung
hilfreich sind oder nicht. Dies lässt sich nur durch eine konkrete
Auseinandersetzung mit den jeweiligen theoretischen Ansätze entscheiden - der
Verweis auf die 11. Feuerbachthese diente in der Geschichte marxistischer
Debatten jedoch nicht selten dazu, eine solche Auseinandersetzung gerade nicht
zu führen und die tradierten Dogmen des Weltanschauungsmarxismus, manchmal
auch nur das Parteiprogramm, pauschal vor Kritik zu bewahren. Dass Marx selbst
nie wieder auf die 11. Feuerbachthese zurückgekommen ist, und schon gar nicht
in der zeitlosen Form eines Gegensatzes von Interpretation (Theorie) und verändernder
Praxis, sei hier nur am Rande vermerkt.
Die Kritik der politischen Ökonomie, als
Dechiffrierung einer bestimmten Form der Vergesellschaftung und Destruktion der
in dieser Vergesellschaftung eingeschlossenen Fetischismen kann keine
unmittelbare Handlungsanleitung sein, sie kann höchstens allgemeine Orientierungen
bieten und darüber hinaus das undankbare Geschäft betreiben, auch die
verändernde Praxis zu kritisieren, sofern diese, trotz bester Absichten der Beteiligten,
innerhalb des fetischistischen Terrains einer über den Wert vermittelten Vergesellschaftung
befangen bleibt. Das, was mir von Martin Birkner immerhin zu gute gehalten
wird, Verbesserung der „wissenschaftlichen Präzision“, ist das mindeste, was zu
einer solchen praktischen Wirksamkeit von Theorie nötig ist. Wissenschaftliche
Präzision allein reicht sicher nicht aus: eine Kritik der Dogmen des
Weltanschauungsmarxismus sollte auch nicht fehlen. Damit wäre das Terrain
freigeräumt, um die grundlegenden ökonomischen und politischen Umbrüche des
gegenwärtigen Kapitalismus jenseits der momentan modischen (auch
„marxistischen“) Seichtigkeiten zu analysieren - was, selbst wenn dabei nicht
dauernd von „Praxis“ die Rede ist, sicher eine wichtige Grundlage für jede
widerständige Praxis wäre.
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[1] Seitenangaben ohne weitere Angaben beziehen sich auf
den Aufsatz von Martin Birkner.
[2] Dieser „Marxismus“, der sich bereits vor dem 1.
Weltkrieg als Parteidoktrin der Sozialdemokratie herausbildete, stellte ein
Konglomerat aus materialistischer Ontologie (= Lehre vom Sein), bürgerlichem
Fortschrittsdenken, Vulgärhegelianismus und Versatzstücken Marxscher Begrifflichkeit
dar, das einfache Formeln und Erklärungen für die Propaganda der Parteien der
Arbeiterbewegung lieferte, und sich selbst als umfassende Welterklärung
verstand, die von Lenin folgendermaßen charakterisiert wurde: „Die Lehre von
Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und
harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung“ (LW 19,
S.3f). Aus unterschiedlichen Perspektiven wird dieser „Marxismus“ z.B. bei
Fetscher (1967), Mehringer/Mergner (1973), Negt (1969), Labica (1986) oder
Fleischer (1993) diskutiert.
[3] Vgl. zu dieser Konstellation die klassische Studie
von Groh (1973).
[4] So die inzwischen verbreitete, aber nicht ganz
unproblematische (weil eine zu große Einheitlichkeit suggerierende) Bezeichnung
von Perry Anderson (1978) für ganz unterschiedliche Diskussionsstränge jenseits
des Parteimarxismus, die u.a. mit den Namen Lukács, Korsch, Adorno, Horkheimer,
Marcuse, Gramsci, Bloch, Benjamin verknüpft sind.
[5] Daher sollte man auch nicht der Versuchung erliegen,
einer dogmatischen eine antidogmatische Linie gegenüberzustellen.
[6] Ausführlicher werde diese Diskussionen in meiner
kommentierten Literaturliste (Heinrich 1999) behandelt. In der DDR gab es in
den 80er Jahren im Umfeld der MEGA Edition ebenfalls Diskussionen, die in eine
in gewisser Hinsicht ähnlich „rekonstruktive“ Richtung zielten, vor allem in
dem von Wolfgang Jahn angestoßenen Projekt einer inhaltlichen Rekonstruktion
des ursprünglichen 6-Bücher Plans von Marx (vgl. dazu Heinrich 2002).
[7] Eine sehr klare Darstellung von weltanschaulichem
Marxismus einerseits und den verschiedenen Stufen der „neuen Marx-Lektüre“
andererseits gibt Ingo Elbe (2000).
[8] Die Problematik derartig globaler Etikettierungen
wird auch daran deutlich, dass mich etwa Wolfgang Fritz Haug im Historisch
Kritischen Wörterbuch des Marxismus (Bd.5, Sp. 961) - ganz im Gegensatz zu
Birkner - unter die „hegelianisierenden“ Marx-Interpreten einreiht, wobei dies
von Haug genauso wenig freundlich gemeint ist, wie Birkners Vorwurf der
„Hegel-Tilgung“ (32).
[9] In vielen linken Zusammenhängen ist immer wieder
gern davon die Rede, dass alles mögliche in einem „dialektischen Verhältnis“
steht, womit anscheinend alles geklärt ist. Zuweilen erhält man auch den
oberlehrerhaften Verweis, dies oder jenes müsse man „dialektisch sehen“. Hier
sollte man sich nicht von der (scheinbar) gelehrten Rede einschüchtern lassen,
sondern immer wieder die Frage stellen, was denn genau unter einer
„dialektischen Beziehung“ verstanden wird, ob es mehr oder anderes sei als eine
irgendwie geartete Wechselwirkung, über die man jetzt auch nichts Genaueres
sagen kann (was man dann aber auch so bezeichnen sollte).
[10] Kategorisch wird diese Absage auch schon in der Einleitung
von 1857 (dem unmittelbar vor den Grundrissen geschriebenen Text, der
nicht die Grundrisse, sondern das Gesamtprojekt einer Kritik der
politischen Ökonomie einleiten sollte) formuliert: „Es wäre also untubar und
falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen,
in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge
bestimmt, durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen
Gesellschaft aufeinander haben...“ (MEW 42, S.41).
[11] Vgl. ausführlicher zur Engelsschen Rezension und den
inhaltlichen Differenzen von Marx und Engels Kittsteiner (1977).
[12] Eine Krisenhaftigkeit, die als allgemeine
Eigenschaft kapitalistischer Vergesellschaftung jeder konkret historischen
Krise zugrunde liegt, dementsprechend auch schon vorher dargestellt sein muss.
[13] Auf die von Birkner aufgestellte Behauptung, ich
würde in der Werttheorie Produktions- und Zirkulationssphäre auseinanderreißen,
falle hier trotz meiner strukturalistischen Ausgangsbasis auf eine
diachronische Position zurück etc. (34), will ich nicht weiter eingehen, da ich
mich zur Werttheorie schon ausführlich in der Debatte mit Trenkle in den Streifzügen
(1/99) geäußert habe und da im selben Heft der grundrisse, in dem sich
Birkners Artikel befindet, Karl Reitter die Werttheorie, einschließlich meiner
Position, sehr differenziert diskutiert.
[14] Dementsprechend macht mir Birkner auch den Vorwurf:
„Jedwedes Fortleben der Problematiken der Frühschriften wird geleugnet, um den
Weg für die positivistische Antithese zum orthodoxen ‚Hegelmarxismus’ freizumachen“
(33). Was er unter „Positivismus“ versteht, wird genauso wenig erklärt, wie der
als selbstverständlich vorausgesetzte Zusammenhang, dass eine Kritik der
Wesensphilosophie notwendigerweise zum Positivismus führt: Der
Positivismusvorwurf bleibt reines Schlagwort. Falls er ihn ernst meint, hätte
er sich zumindest mit meiner These, dass die Kritik des Empirismus für die
Kritik der politischen Ökonomie ebenso grundlegend wie die Kritik der
Wesensphilosophie ist, auseinandersetzen müssen. Dass mir Birkner unterstellt,
ich wolle den Positivismus absichtsvoll fördern („es wird geleugnet, um
den Weg frei zu machen), dass ich also bestimmte Positionen nur vertrete, um
damit etwas ganz anderes zu erreichen, mag ein sprachlicher Lapsus sein.
[15] Insofern ist die Rede vom „bürgerlichen Subjekt“
eigentlich ein Pleonasmus.
[16] Was Birkner pauschal der strukturalen
Interpretationslinie zum Vorwurf macht. Mir speziell wird außerdem noch
angekreidet, dass das historische und moralische Element des Werts der Arbeitskraft
nur in einer Fußnote meines Buches auftaucht, woraus gefolgert wird, der Klassenkampf
wäre für mich ein „störendes Element“, welches die wissenschaftliche Analyse
erschwert (36). Wie man zu dieser Folgerung kommen kann, ist mir allerdings
unerfindlich.
[17] Was noch dadurch verstärkt wurde, dass Engels, der
die Feuerbachthesen nach Marx Tod erstmals veröffentlichte, an entscheidender
Stelle ein „aber“ einfügte.