Eingreifen, aber nicht belehren!
von Michael Heinrich
Jungle World Nr. 46, 15. November 2007
Kapitalismuskritik, die mehr sein will als ein bloß
moralisches Verurteilen, kommt ohne Analyse nicht aus. Am unbegriffenen Kapitalismus
kann man dessen zerstörerische Folgen lediglich beklagen. Diese Destruktion als
eine zu kritisieren, die notwendigerweise mit der kapitalistischen
Produktionsweise einher geht, setzt ein Mindestmaß an Einsicht in das
Funktionieren dieser Produktionsweise voraus. Kapitalismusanalyse ist aber
keine Angelegenheit, die sich von selbst versteht. Sie kann von recht
unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und ganz verschiedene Momente ins
Zentrum stellen. Daher kommt man um den Streit über die Art und Weise der
jeweiligen Analyse nicht herum. Wer solchen Streit von vornherein als
„Seminarmarxismus“ denunziert und den wirklichen „Kämpfen“ entgegen stellt,
schottet lediglich die eigenen Voraussetzungen und Analysen von jeder
kritischen Diskussion ab.
Wenn im Dezember in Frankfurt ein Kongress
verschiedene Kapitalismusanalysen diskutieren und der Frage nachgehen will, was
sie für eine emanzipatorische Praxis leisten können, so ist dies zunächst
einmal zu begrüßen. Nicht zu begrüßen ist die verengte Perspektive der
VeranstalterInnen, die lediglich „Wertkritik“ und „(Post)Operaismus“ einander
gegenüber stellen und sie derart unkritisch charakterisieren – die eine setzt
an der objektiven, der andere an der subjektive Seite an – dass damit nahe
gelegt wird, es käme nur darauf an diese beiden Ansätze richtig zu verbinden.
Das Label „Wertkritik“ wurde vor allem von Robert
Kurz und der Zeitschrift Krisis benutzt. Es bezeichnet eine Position, welche
die Betonung der sachlichen Herrschaft des Werts mit einem fragwürdigen
Technikdeterminismus zusammenschließt: die „mikroelektronische Revolution“
führe dazu, dass dem Kapital die „Wertsubstanz“ ausgehe. Daher sei die
unvermeidliche Zusammenbruchskrise schon in vollem Gange, auch wenn man das
nicht so richtig sehen könne, da dieser Zusammenbruch immer wieder durch andere
Faktoren verdeckt werde.
Mit (Post)Operaismus sind vor allem an Hardt und
Negri anschließende Strömungen gemeint. Dort ist es nicht die Technik, sondern
die nebulöse „Multitude“ (zu der im Zweifelsfall doch irgendwie alle gehören),
welche die Entwicklung des Kapitalismus vorantreibt und letzten Endes auch den
Kommunismus bringen soll. Wobei letzterer eigentlich schon da ist, aber – ganz
ähnlich wie die wertkritischen Zusammenruchskrise – halt noch nicht so richtig
sichtbar ist.
Beide Richtungen gefallen sich in großen
theoretischen Würfen, bei denen der analytische Ertrag aber eher begrenzt
bleibt. Den eignen Behauptungen wird die Konfrontation mit der empirischen
Wirklichkeit des gegenwärtigen Kapitalismus gerne erspart. Für eine
emanzipatorische Praxis sind beide Richtungen nicht sonderlich gut zu
gebrauchen, so dass man für den Frankfurter Kongress nur hoffen kann, dass die
TeilnehmerInnen nicht an der allzu engen Perspektive der VeranstalterInnen kleben
bleiben.
Dass in der kapitalistischen Gesellschaft Klassen
existieren und somit auch Klassenkämpfe stattfinden, ist zwar richtig, aber
noch keine besonders tief schürfende Einsicht. Nur im Deutschland der „sozialen
Marktwirtschaft“ und „nivellierten Mittelschicht“ kann ein solcher Befund in
den Verdacht geraten, er sei bereits links. Auch Marx hat keineswegs als erster
von Klassen und Klassenkampf gesprochen. Bürgerliche Historiker und Ökonomen
taten dies lange vor ihm. Dass die Existenz von Klassen nicht der unmittelbare
Ausgangspunkt der Analyse sein kann, musste auch Marx erst lernen. Im auch
heute noch gern zitierten „Kommunistischen Manifest“, das sofort mit den
Klassen und ihrem Kampf anfängt, ist er über die bürgerliche Klassentheorie
noch längst nicht hinaus. Nicht zufällig ist aber knapp zwanzig Jahre später,
im „Kapital“, die systematische Behandlung der Klassen erst am Ende des dritten
Bandes vorgesehen: über die Konstitution der Klassen, über Klassenhandeln,
Klassenbewusstsein lässt sich erst sinnvoll reden, wenn die spezifischen
Formbestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt sind. Im
Unterschied zu allen vorkapitalistischen Produktionsweisen sind es hier nämlich
nicht persönliche, sondern unpersönliche Herrschaftsverhältnisse, die
„sachliche“ Herrschaft von Wert und Kapital, welche die Gesellschaft
strukturieren. Sie machen das historisch Spezifische der bürgerlichen
Gesellschaft aus. Die mit den sachlichen Herrschaftsverhältnissen
einhergehenden Fetischformen und Mystifikationen bilden den Hintergrund der
spontanen Bewusstseinsformen, sie bilden jene „Religion des Alltagslebens“, die
Marx unter dem Titel „Trinitarische Formel“ abhandelt, auf die dann erst die
systematische Analyse der Klassen folgen soll. Blendet man die Analyse dieser
„strukturellen“ Bedingungen aus, dann hat man die kapitalistische Gesellschaft
auf das reduziert, was sie mit allen bisherigen Gesellschaften gemeinsam hat,
auf Herrschaft und Ausbeutung, hat aber von der Spezifik kapitalistischer
Herrschaft und Ausbeutung noch nichts begriffen.
Diese analytische Leerstelle wird dann gerne durch
eine idealisierende Bezugnahme auf die Arbeiterklasse (oder auch die Multitude)
und ihre Kämpfe gefüllt. Wann immer die Arbeiterklasse kämpft, und das tut sie
für den Theoretiker des Klassenkampfs ja eigentlich dauernd, nicht nur beim
Streik für höhere Löhne, sondern auch beim Krankfeiern oder bei der
Verlangsamung des Arbeitstempos, dann ist auch der Weg zum revolutionären
Bewusstsein nicht mehr weit. Lediglich böse Gewerkschaftsfunktionäre und
reformistische Parteistrategen bringen die Arbeiterklasse immer wieder von
diesem rechten revolutionären Weg ab.
Doch das Problem liegt tiefer. Bereits die „Form“
Arbeitslohn suggeriert, und zwar sowohl dem Arbeiter wie dem Kapitalisten, es
werde der Wert der geleisteten Arbeit bezahlt, so dass sich trefflich über
einen „gerechten“ Lohn streiten lässt und gesellschaftliche
„Gerechtigkeitslücken“ festgestellt werden können. Auf der Form Arbeitslohn
„beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle
Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre
Freiheitsillusionen“, hält Marx im „Kapital“ fest.
Diese Rechtsvorstellungen und Freiheitsillusionen
bilden den Rahmen, in dem die Klassenkämpfe zunächst einmal stattfinden. Das
heißt nicht, dass die gesellschaftlichen Kämpfe auf ewig in diesem Rahmen
eingespannt bleiben müssen. Ihn zu überschreiten und „ums Ganze“ zu kämpfen ist
möglich und wurde in der Geschichte auch immer wieder versucht. Irgendeine
Notwendigkeit für eine solche Überschreitung existiert jedoch nicht. Und erst
recht gibt es keine Gewähr dafür, dass es nach einer solchen Überschreitung
nicht doch wieder zu einer Regression kommt. Die bei vielen
Klassenkampftheoretikern verbreitete Vorstellung eines bereits existierenden
revolutionären Subjekts, dem bloß noch das richtige Bewusstsein über sich
selbst fehlt, das es aber in seinen täglichen Kämpfen mehr oder weniger
automatisch gewinnen würde, ist ein schlechter Abklatsch Hegelscher Geschichtsphilosophie.
Wenn Menschen sich mit ihren Lebensverhältnissen
auseinandersetzen, wenn sie anfangen, den Zumutungen des Kapitalismus
Widerstand entgegenzusetzen, dann sind sie im allgemeinen
auch wissbegierig, dann wollen sie etwas über diese Verhältnisse lernen. Das
kann zu einer verkürzten Kapitalismuskritik führen, die in „Heuschrecken“ und
„Spekulanten“, die Ursache allen Übels zu erkennen glaubt. Es kann aber auch zu
einem Mehr an Einsicht in die gerade nicht an Personen gebundene kapitalistische
Form von Herrschaft und Ausbeutung führen. Die verschiedenen Gruppen und
Grüppchen der radikalen Linken haben häufig die Tendenz sich vor allem
untereinander zu streiten. Inzwischen wäre aber eine Debatte darüber
angebracht, wie mit der eigenen Analyse und Kritik des Kapitalismus in
gesellschaftliche Kämpfe interveniert werden kann, ohne dabei bloß belehrend
aufzutreten, aber auch ohne sich in Idealisierungen dieser Kämpfe zu verlieren
oder sich gar irgendwelchen „Bündnispartnern“ opportunistisch an die Brust zu
werfen.