Profit ohne Ende. Der Kapitalismus hat erst angefangen

von Michael Heinrich

jungle world Nr. 28, 12. Juli 2007

 

Debatten über den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ haben derzeit Konjunktur. Doch wird dieses Jahrhundert zunächst eher eines des Kapitalismus als des Sozialismus werden. Nicht weil mal wieder Aufschwung angesagt ist. Hier spielt sich das übliche Debatteritual ab. Die Regierung erklärt den Aufschwung zur Folge ihrer Politik, die Fans von Kapitalismus und Marktwirtschaft nehmen ihn zum Beweis, dass alles gut wird. Und die Linke verweist auf die Instabilität des Aufschwungs und sieht die nächste Krise am Horizont. Prosperität und Krise wechseln sich im Kapitalismus beständig ab, doch stehen hinter diesen Auf und Ab Tendenzen zur Ausdehnung wie auch zur Vertiefung des Kapitalismus, die noch längst nicht an ihr Ende gekommen sind.

 

Das „Wirtschaftswunder“ als Episode

Der moderne, industrielle Kapitalismus begann im 18. Jh. in England. Die nachholende Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den USA stellte die englische Hegemonie aber bereits am Ende des 19. Jh. in Frage. In der ersten Hälfte des 20. Jh. entwickelte sich der Kapitalismus auch in Lateinamerika und Südeuropa, während mit der russischen und später mit der chinesischen Revolution ein großer Teil des Erdballs dem direkten Zugriff des Kapitals entzogen wurde. Staatliche Entwicklungsdiktaturen trieben dort eine Industrialisierung voran, die nicht weniger menschliche Opfer kostete als die Entwicklung des Kapitalismus im Westen.

Nach zwei Weltkriegen, einer Weltwirtschaftskrise, die alle bisherigen Krisen in den Schatten stellte, nach Nationalsozialismus und Holocaust, etablierte sich die USA als kapitalistische Hegemonialmacht mit der Sowjetunion als Gegenspieler. Besondere wirtschaftliche und politische Bedingungen führten in Westeuropa und Nordamerika zwischen 1955 und 1974 zu einer beispiellosen Prosperität, die auch zur kapitalistischen Entwicklung Japans beitrug. Während dieses „Wirtschaftswunders“ stiegen die Realeinkommen stark an und sozialstaatliche Leistungen wurden ausgebaut. Der Kapitalismus schien zumindest in den Metropolen Krise und Elend überwunden zu haben.

Doch in den späten 1970er und 80er Jahren wurde deutlich, dass die Weltwirtschaftskrise von 1974/75 nicht bloß eine Unterbrechung dieses Wirtschaftswunders darstellte. Die kapitalistische Entwicklung blieb krisenhaft und wie stets wurde der Ausweg aus der Krise neben verstärktem Export und beschleunigter technischer Entwicklung vor allem in einer erhöhten Ausbeutung der Arbeitskraft gesucht. Die Realeinkommen stagnierten oder gingen zurück, sozialstaatliche Leistungen wurden immer weiter eingeschränkt.

Die Wirtschaftswunderzeit war bloß eine Episode in der Entwicklung des Kapitalismus. Doch sie hat sich vor allem in Deutschland tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Noch immer herrscht im eher linken Teil des Parteienspektrums der Glaube vor, durch eine „richtige“ Wirtschaftspolitik könne Vollbeschäftigung herbeigezaubert werden, der „entfesselte“ Kapitalismus müsse nur wieder anständig reguliert werden. Aber auch bei Teilen der etwas radikaleren Linken beherrscht die Wirtschaftswunderzeit die Wahrnehmung, gilt ihnen die Entwicklung seither doch als Absturz in Richtung Endkrise oder zumindest als Niedergangsphase des Kapitalismus – als sei es jemals die Bestimmung des Kapitalismus gewesen Vollbeschäftigung und Wohlstand unters Volk zu bringen. Krise und Arbeitslosigkeit sind keineswegs Zeichen kapitalistischen Niedergangs sondern kapitalistischer Normalität.

Der Ausdehnung des Kapitalismus ging jedenfalls munter weiter, vor allem in Ostasien. Dem Aufstieg der vier „kleinen Tiger“ (Taiwan, Hongkong, Singapur, Südkorea) in den 1970er und 80er Jahren folgten zu Beginn der 90er die vier „kleinen Drachen“ (Thailand, Indonesien, Malaysia, Philippinen).

 

Der globale Konkurrenzkapitalismus

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich das geopolitische Koordinatensystem. Einerseits hatte das westliche Kapital nun direkten Zugriff auf Osteuropa und Russland. Andererseits hatten die ostasiatischen Schwellenländer als Bollwerk gegen den „Kommunismus“ ausgedient. Als dort 1997/98 eine gewaltige Spekulationsblase platzte und erhebliche industrielle Überkapazitäten sichtbar wurden, störte der Absturz dieser Ökonomien die führenden kapitalistischen Länder nicht weiter. Einen geopolitischen Gegner, dem dieser Absturz in die Hände hätte spielen können, gab es nicht mehr.

Vor diesem Hintergrund bildete sich in den 1990er Jahren ein globaler Konkurrenzkapitalismus heraus, der von einem internationalisierten Finanzsystem angetrieben wurde, das sich seit den 1970er Jahren entwickelt hatte und seither ständig angewachsen war. Weltweit wurden nicht nur neue Märkte erschlossen, sondern über internationale Wertschöpfungsketten auch jede Möglichkeit der Profitsteigerung ausgenutzt.

Zugleich erreichte das neoliberale Credo vom schlanken Staat ohne Schulden den Höhepunkt seiner Wirksamkeit: in immer neuen Steuersenkungsrunden wurden Unternehmen und obere Einkommensgruppen entlastet und die staatlichen Haushalte unter einen permanenten Sparzwang gestellt, der eine Kürzung sozialer Leistungen und die Privatisierung staatlicher Unternehmen erforderte.

Für das Kapital verbesserten sich die Verwertungsbedingungen und neue Anlagesphären boten sich an: nicht nur privatisierte Staatsbetriebe, sondern auch die privatisierte Daseinsvorsorge (Krankenversicherung, Altersvorsorge). Die von den Bürgern permanent geforderte „Eigenverantwortung“ bedeutete lediglich, dass sie mehr zahlen müssen und in neuen Sektoren Profite gemacht werden können. Die weitere Vertiefung des Kapitalismus, die Unterwerfung immer neuer Lebensbereiche unter die Logik der Profitmaximierung ist auch in bereits entwickelten kapitalistischen Ländern im Gang.

 

Armutskapitalismus im 21. Jahrhundert

In den 1990er Jahren machten sich mit China und Indien zwei neue Mächte auf der kapitalistischen Weltbühne deutlich bemerkbar, die mit 1,3 bzw. 1,1 Mrd. Einwohnern zusammen mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung umfassen. Beide Länder hatten über Jahre hinweg enorm hohe Wachstumsraten. Während in China die Masse der Arbeitskräfte unter Bedingungen wie im Frühkapitalismus ausgebeutet werden, so dass der Weltmarkt mit Billigprodukten überschwemmt werden kann, ist es Indien gelungen durch enorme Investitionen ins Bildungssystem auch eine große Zahl von hochqualifizierten und trotzdem billigen Arbeitskräften (Ingenieure, Softwareentwickler, Pharmazeuten) hervorzubringen, die für ausländische Investoren besonders attraktiv sind. Gleichzeitig haben sich die Einkommensunterschiede, wie auch die regionalen Entwicklungsunterschiede in beiden Ländern erheblich verschärft.

Die kapitalistische Entwicklung Indiens und Chinas steht erst am Anfang; sie dürfte zukünftig einen maßgeblichen Einfluss auf Weltwirtschaft und Weltpolitik haben. Wenn sich dort in den nächsten Jahrzehnten eine kaufkräftige Mittelschicht herausbildet, die lediglich 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung umfasst, während der Rest in Armut lebt, dann ist allein dies ein Markt von 600 bis 700 Millionen Menschen, der weit größer sein wird als die erweiterte EU mit ca. 500 Millionen Menschen. Gleichzeitig sichert das riesige Heer von Armen auf Jahrzehnte hinaus einen Zustrom von billiger Arbeitskraft. Für das Kapital mag im 21. Jh. alles mögliche knapp werden, billige Arbeitskräfte werden nicht dazu gehören. Die Mehrwertrate wird weltweit zunehmen. Und zwar nicht nur der „relative“ Mehrwert, der steigt, wenn die Reallöhne gleich bleiben und sich das Kapital die Früchte der technologischen Entwicklung aneignet, sondern auch der „absolute“ Mehrwert, der bei einer Verlängerung der Arbeitszeit und/oder einer Senkung der Reallöhne steigt.

Dass Beschäftigte, wie jetzt bei der Telekom, auch im Aufschwung Arbeitszeitverlängerung und zusätzliche Lohneinbußen hinnehmen müssen, wird in Zukunft keine Ausnahme mehr sein. Es wird nur weniger auffallen. In Deutschland gab es den größten Arbeitsplatzzuwachs bei der Zeitarbeit. Um hier Verschlechterungen durchzusetzen, muss man nicht erst Tarife ändern und entlassen, es genügt Beschäftigungsverhältnisse nicht zu verlängern.

Ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse breiten sich aus, doch gaukelt die Rede vom „Prekariat“ eine nicht vorhandene Gemeinsamkeit vor. Die gering qualifizierte Frau, die zwischen dem „Minijob“ an der Supermarktkasse und diversen Putzjobs pendelt hat mit dem in wechselnden Drittmittelprojekten beschäftigten Akademiker nicht viel gemeinsam.

Die Unterschiede werden nicht nur innerhalb sondern auch zwischen den Ländern zunehmen. Armut wird in Westeuropa auch in den nächsten Jahren noch etwas anderes bedeuten als in den Elendsquartieren der Schwellenländer. In Ländern wie Deutschland werden die überflüssigen Arbeitskräfte vielleicht durch ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ über Wasser gehalten werden: ein Einkommen auf Hartz IV Niveau, bei dem die aufwändige „Bedürftigkeitsprüfung“ wegfällt, und mit dem dann der Abbau aller weiteren sozialstaatlichen Leistungen gerechtfertigt wird.

 

Währungskonkurrenz und erodierende US-amerikanische Hegemonie

Der USA als einziger Supermacht stehen eine Reihe von aufstrebenden Mittelmächten gegenüber: die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) sowie die mal mehr mal weniger einheitlich auftretende EU. In internationalen Institutionen wie der WTO haben die Konflikte bereits zu einer teilweisen Lähmung geführt, dem IWF hat bereits einen erheblichen Bedeutungsverlust erfahren.

Konkurriert wird aber nicht nur um knapper werdende Ressourcen wie Öl, sondern auch um das Weltgeld. Der Dollar als Weltgeld ermöglicht den USA eine riesige Verschuldung, die nicht nur zu ihrem Wohlstand beiträgt, sondern auch die Finanzierung eines Militärhaushalts ermöglicht, der so groß ist wie die Militärausgaben der gesamten übrigen Welt zusammen. Mit der wirtschaftlichen Stärke und dem militärischen Drohpotential kann dann wieder die Rolle des Dollars gestützt werden.

Mit dem Euro, dessen Bedeutung als Handels- und Reservewährung stark zugenommen hat, gibt es zum ersten Mal einen potentiellen Konkurrenten zum Dollar. Die weltweit größten Dollarreserven werden aufgrund ihrer riesigen Exportüberschüsse von Japan und China gehalten. Eine auch nur teilweise Umschichtung dieser Reserven in Euro würde den Dollar erheblich schwächen und die hegemoniale Position der USA untergraben. Zwar ist auch den asiatischen und europäischen Exportländern nicht an einem Absturz der USA gelegen, aber durchaus an deren Schwächung. Dem wird der Hegemon aber nicht tatenlos zusehen. Bereits im letzten Irakkrieg ging es nicht nur um den Zugang zu billigem Öl sondern auch um die Verteidigung des Dollars als Ölhandelswährung.