Die Geschäftsgrundlagen des Kapitalismus
Interview
mit Michael Heinrich
(in: phase
2.18, Dezember 2005)
Als sich PDS und WASG im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005 vereinten, wurde
dies in Öffentlichkeit als erfolgsversprechende Geburtstunde einer
parlamentarischen Linken gesehen. Ähnlich wie schon im Zusammenhang mit den
ersten Aktionen der globalisierungskritischen Bewegung attestierte man den
Linken – ob hoffnungsvoll oder eher besorgt – gesellschaftliches
Veränderungspotential. Während die Hoffnung auf eine antikapitalistische
Radikalisierung der globalisierungskritischen Bewegung bis heute uneingelöst
bleibt und die Linkspartei nur sozialdemokratische Versprechen auffrischt,
bleibt doch die Vorstellung lebendig, dass die linke Kritik am Sozialabbau
wenigstens die alltäglichen Lebensumstände verbessern kann. Phase 2 unterhielt
sich mit Michael Heinrich Redakteur von PROKLA - Zeitschrift für kritische
Sozialwissenschaft, über die Möglichkeiten politischer Steuerung ökonomischer
Krisen und die Erfolgsaussichten des sozialdemokratischen Projekts.
Phase 2: Bei
einem historischen Blick auf den Kapitalismus scheint sich zu bestätigen, dass
das System nicht alleine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgt.
Sozialstaatsgesetzgebungen haben sich in verschiedenen Formen in allen
entwickelten Industriestaaten durchgesetzt. Hintergründe dafür waren
vorbeugende Maßnahmen des ideellen Gesamtkapitalisten zum Erhalt der Ware
Arbeitskraft und/oder politische Zugeständnisse gegenüber potentiell umstürzlerischen
Tendenzen der Arbeiterbewegung. Spätestens aber mit dem Akkumulationsmodell des
Fordismus schien die Wohlstandsmehrung breiter Bevölkerungsmassen, denen damit
eine gesellschaftliche Teilhabe als Konsument und besitzender Kleinbürger
gewährt wurde, zu dem Erfolgsschlager des Kapitalismus zu werden. Die
Massenkaufkraft förderte Konsum, damit Wirtschaftswachstum und die
Systemzufriedenheit der Mehrzahl der Menschen in den betreffenden Ländern
schien grenzenlos. Wie konnte dieses Modell eigentlich funktionieren?
Michael Heinrich: Die Blütezeit des Fordismus, also ungefähr die Phase
zwischen 1950 und 1975, die in Deutschland als Zeit des „Wirtschaftswunders“
gilt, war eine Ausnahmephase in der Entwicklung des Kapitalismus. Und zwar
nicht nur von den Ergebnissen her – anhaltend steigende Reallöhne bei stabilen
Profiten und keine größeren krisenhaften Einbrüche – sondern vor allem von den
Voraussetzungen her. Einerseits ein hoher Investitions- und Konsumbedarf, was
sich zum Teil aus den Zerstörungen des 2. Weltkriegs und dann vor allem aus dem
„Koreaboom“ erklärt: der Koreakrieg zu Beginn der 1950er Jahre wirkte wie ein
riesiges Konjunkturprogramm für die Weltwirtschaft. Andererseits ein niedriges
Lohnniveau. Zwar ermöglichte der schnelle Abbau der Arbeitslosigkeit, dass die
Gewerkschaften bald erhebliche Lohnerhöhungen durchsetzten, doch führte dies
nicht zu einer Verringerung der Profite. Es fand nämlich in großem Stil das
statt, was Marx als „Produktion des relativen Mehrwerts“ bezeichnete: Die
Unternehmer konnten die Lohnerhöhungen durch eine beschleunigte
Produktivkraftentwicklung kompensieren. Die höheren Löhne führten zu mehr
Kaufkraft, die Arbeiter und Arbeiterinnen konnten einen größeren Güterkorb
kaufen. Da aber die Güter in kürzerer Zeit hergestellt wurden, bedeutete die
höheren Löhne nicht, dass die Beschäftigten einen größeren Anteil des von ihnen
geschaffenen Wertprodukts erhielten, so dass die höheren Löhne mit
gleichbleibenden oder sogar steigenden Profiten einher gingen. Da außerdem ein
großer Teil der Produktivkraftsteigerungen für das Kapital relativ „billig“ war
– sie verdankten sich einerseits dem Übergang zu immer größeren Serien,
andererseits der zunehmenden „Taylorisierung“ (Zerlegung) der Arbeit – stieg
der Kapitalkoeffizient, also das Verhältnis von eingesetztem Kapital zu Output
nicht wesentlich an. Und das bedeutete, dass nicht nur die Profite stabil
blieben, sondern auch die Profitraten. Und schließlich sorgte ein relativ stark
reguliertes Kredit- und Währungssystem dafür, dass sich finanzielle Turbulenzen
nicht störend auswirkten.
Phase 2: Das hört sich alles ziemlich problemlos an, steigende Reallöhne,
stabile Profite, für jeden etwas. Hat der Fordismus wirklich so gut und sozial
funktioniert?
Michael
Heinrich: Was das
„gute Funktionieren“ betrifft, sollte man nicht vergessen, dass dieses „goldene
Zeitalter“ auf Westeuropa und Nordamerika beschränkt war, die sog. Dritte Welt
hatte ziemlich wenig davon. Aber auch in den Kernländern des Fordismus
konzentrierte sich die starke Verbesserung der Lebensverhältnisse auf die
Kernschichten des Proletariats (IndustriearbeiterInnen und qualifizierte
Arbeitskräfte). Auch in den Zeiten des Wirtschaftswunders gab es noch jede
Menge marginalisierter Schichten, im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre
etwa viele RentnerInnen, chronisch Kranke, Behinderte, Alleinerziehende. Und
nicht zuletzt hatte dieses Wirtschaftswunder auch seine sozialen Kosten. Dass
die Produktivkraftsteigerungen zu einem guten Teil über veränderte Formen der
Arbeitsorganisation erreicht wurden, hieß eben nichts anderes, als dass der
Arbeitsstress, die physischen und/oder psychischen Belastungen erheblich
zunahmen.
Allerdings
war die Erhöhung des Konsumniveaus und vor allem die verstärkte soziale
Absicherung großer Bevölkerungsteile schon sehr deutlich. Daher war dieses
Wirtschaftswunder auch so beeindruckend. Für die meisten Menschen in den
fordistischen Kernländern schien es eine offensichtlich Tatsache zu sein, dass
der „alte“ Kapitalismus des 19. Jahrhunderts von einem neuen System abgelöst
worden war, der „sozialen Marktwirtschaft“, wie es in der BRD hieß. Inzwischen
ist zwar genauso deutlich geworden, dass dies nicht der Fall ist. Aber immer
noch wirkt dieses Wirtschaftswunder als eine Art Referenzgröße, die definiert
was Kapitalismus „eigentlich“ ist oder sein könnte: für die „reformistische“
Linke gilt der gegenwärtige Kapitalismus als ein „entfesselter“, den man regulieren
möchte, damit man wieder zu Vollbeschäftigung und einem gut ausgebauten
Sozialstaat zurückkommen kann; auch Teile der „nicht-reformistischen“ Linken
identifizieren den Wirtschaftswunderkapitalismus mit Kapitalismus und sehen im
Verschwinden dieses Wirtschaftswunderkapitalismus bereits den Anfang vom
Zusammenbruch des Kapitalismus überhaupt.
Phase 2: Heute
ist dieses “goldene Zeitalter“ des Fordismus jedenfalls zu Ende. Was waren die
Gründe für dieses Ende? Waren es zwangsläufige ökonomische Entwicklungen, oder
waren es eher Verschiebungen politischer Kräfteverhältnisse, die zu neuen
Strategien und schließlich zur neoliberalen Transformation geführt haben, die
der Kapitalismus seither erlebt hat?
Michael
Heinrich: Das
„goldene Zeitalter“ des Fordismus beruhte auf einer Reihe von spezifischen Voraussetzungen,
die in der Entwicklung des Kapitalismus historische Ausnahme sind und die sich
Mitte der 1970er Jahre weitgehend aufgelöst hatten. Der Welthandel, der nach
dem 2. Weltkrieg überhaupt wieder in Gang kommen musste, und der, ausgehend von
einem niedrigen Niveau zunächst enorme Wachstumsraten aufwies, konnte nicht
mehr in demselben Masse weiterwachsen. Der private Konsum konnte ebenfalls
nicht mehr im selben Ausmaß steigen, nachdem die meisten Haushalte mit
Waschmaschinen, Kühlschränken, Fernsehern und Autos versorgt waren. Und die
„billigen“ Produktivkraftsteigerungen der 60er Jahre kamen auch an ein Ende, da
sich der Taylorismus nicht beliebig steigern ließ und bei den Beschäftigten
auch schon spürbare Folgen hinterließ, sei es in einem steigenden Krankenstand
oder auch in einem - meistens verdeckten - Widerstand gegen die Arbeitsanforderungen.
Insofern gab es verschiedene Entwicklungen, die zu Absatzproblemen und einer
Senkung der Profitraten führten. Zugleich war das internationale Währungssystem
in eine Krise geraten, die Zentralbanken konnten das System fester Wechselkurse
durch Marktinterventionen (z.B. Stützungskäufe für geschwächte Währungen) nicht
mehr aufrecht erhalten. Der „Erfolg“ des Fordismus hatte dazu geführt, dass die
Währungsreserven der Zentralbanken nicht mehr mit den gewachsenen Geldkapital
der privaten Vermögensbesitzer mithalten konnten. Insofern hatte sich die
wirtschaftliche Situation in den 1970er Jahren grundlegend geändert, was sich
zunächst in Währungskrisen und dem Zusammenbruch des Systems fester
Wechselkurse und dann in der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 ausdrückte. Auf
die veränderten ökonomischen Bedingungen mussten sowohl die Unternehmen, als
auch die Regierungen reagieren. Allerdings gab es dabei weder eine vollständige
ökonomische Determinierung der politischen Entscheidungen, noch hatten diese
einen beliebigen Spielraum. Der Staat ist zwar „ideeller Gesamtkapitalist“,
d.h. wenn die Parteien nach dem suchen, was für „unsere“ Wirtschaft das beste
ist, dann verfolgen sie das „kapitalistischen Allgemeininteresse“, das dann vom
Staat gegebenenfalls auch gegen einzelne Kapitalfraktionen durchgesetzt wird.
Der Witz ist aber, dass keineswegs immer klar ist, worin dieses „kapitalistische
Allgemeininteresse“ im Detail besteht, und wie ihm am besten gedient ist. Es
stehen sich sowohl die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen, als auch
sich widersprechende kurz- und langfristige Interessen gegenüber. Und
schließlich muss die Verfolgung des kapitalistischen Allgemeininteresses auch
gegenüber den subalternen Klassen legitimiert werden, die zuweilen sehr
integriert, zuweilen aber auch widerständiger sein können. Wird all dies in
Betracht gezogen, dann ist klar, dass stets unterschiedliche Strategien möglich
sind, wie dieses kapitalistische Allgemeininteresse verfolgt werden kann. Dabei
sind die Unterschiede keineswegs unbedeutend – auch wenn man betonen muss, dass
auf der anderen Seite eben nicht „alles“ möglich. So waren z. B.
unterschiedliche Strategien möglich, um auf die Krise des Systems fester
Wechselkurse zu reagieren. Ein System fester Wechselkurse hätte sich durch die
Einführung oder Verstärkung von Regulierungsmaßnahmen wie etwa den früher
durchaus üblichen Kapitalverkehrskontrollen aufrecht erhalten lassen können
(wobei die dann resultierende Entwicklung sicher auch nicht ohne Krisen
abgegangen wäre). Stattdessen wurden mit den fixen Wechselkursen die Reste
solcher Kontrollen abgeschafft. Der möglichst unregulierte „Markt“ sollte
sowohl die monetären Gleichgewichte herstellen, die durch staatliche
Intervention nicht mehr herstellbar waren, als auch Impulse zu Investition und
Wachstum geben. Auch in anderen Bereichen waren durchaus unterschiedliche
Antworten auf die veränderten ökonomischen Ausgangsbedingungen möglich, haben
sich aber nicht durchsetzen können. Sind Entscheidungen jedoch einmal
getroffen, dann stellen sie auch eine neue Realität her und sind nicht mehr
ohne weiteres zu revidieren. In der neuen Situation haben sich auch die
Spielräume politischen Handelns verändert. Insofern gibt es das in Eurer Frage
unterstellte entweder (ökonomische Bedingungen) – oder (politische Entscheidungen)
gar nicht; es gibt vielmehr ein in jeder historischen Situation neu
zusammengesetztes sowohl – als auch.
Phase 2: Wie
sieht es gegenwärtig mit diesen Spielräumen aus? Vor allem mit der Linkspartei
verbindet sich die Forderung nach einer Steigerung des Massenwohlstands. Über
Umverteilungsmaßnahmen, beispielsweise höhere Unternehmenssteuern die zur
Existenzsicherung von Arbeitslosen bzw. für öffentliche Investitionen in den
Arbeitsmarkt genutzt werden sollen, hofft man auf einen Ausweg aus der Krise.
Die flächendeckend gesteigerte Kaufkraft soll die kränkelnde Binnennachfrage
und damit letztendlich den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder in Gang
bringen. Das Modell klingt zu nächst logisch, aber funktioniert es auch? Einige
Kritiker der sozialdemokratischen Nachfragesteuerung meinen, dass staatlich
gesteuerte Umverteilung nichts anderes wäre als Raub an der Mehrwertmasse. Ein
solcher Eingriff in das Profitsystem führe nicht zum erhofften
Wirtschaftswachstum, sondern verkleinere die Investitionsgrundlage und
verstärke letztendlich nur Krisenerscheinungen wie die Arbeitslosigkeit. Wer
hat recht?
Michael
Heinrich: So
gegenübergestellt hat keine Position „recht“, die Einseitigkeiten dieser
Positionen sind vielmehr Ausdruck der beschränkten Auffassungen der
kapitalistischen Produktionsweise. Sehr vereinfacht kann man diese
Beschränkungen folgendermaßen charakterisieren. Die Neoklassiker gehen von der
Gültigkeit des Sayschen Gesetzes (jedes Angebot schafft eine gleich große
Nachfrage) aus. Grundlegende Nachfrageprobleme gibt es für sie nicht, die
wirtschaftliche Entwicklung hängt einzig von der Angebotsseite ab. Höhere Löhne
führen demnach zum Abzug vom Profit, zu geringerem Wirtschaftswachstum und
höherer Arbeitslosigkeit, da die „teure“ Ware Arbeitskraft von den Unternehmen
weniger gekauft wird. Wiederum sehr vereinfacht könnte man sagen, die
Neoklassiker (zumindest die Vulgärversion, die politisch einflussreich ist)
bleiben auf der Analyseebene des ersten Bandes des Marxschen „Kapital“ stehen,
wo es um den „Produktionsprozess des Kapitals“ geht. Die keynesianisch
inspirierten Nachfragetheorien wissen immerhin, dass es nicht nur einen
Produktionsprozess, sondern auch einen Zirkulationsprozess des Kapitals gibt
(bei Marx Gegenstand des zweiten Bandes des „Kapital“), dass der
Reproduktionsprozess des gesellschaftlichen Gesamtkapitals aus einer Vielzahl
ineinander verschlungener Kapitalkreisläufe besteht. In diesem
Reproduktionsprozess wird nicht einfach ein vorhandener Wertkuchen in eine
größere und eine geringere Portion geteilt wird, es handelt sich vielmehr um
einen dynamischen Prozess der Produktion und Zirkulation von Wert und Mehrwert,
wobei die Produktion des einen Kapitals stets auf die Nachfrage eines anderen
Kapitals (oder der von ihm beschäftigten Arbeitskräfte) angewiesen ist und
insofern auch die Nachfrageseite eine entscheidende Rolle spielt. Allerdings
bleiben die in der politischen Debatte vertretenen Nachfragekonzepte meistens
an diesem Punkt stehen und unterstellen, dass durch eine Erhöhung der
Nachfrage, dieser Wertkuchen quasi automatisch vergrößert werden könnte. Dabei
wird aber vernachlässigt, dass kapitalistische Produktion immer Produktion für
den Profit ist. Kapitalisten produzieren nicht für den Absatz als solchen,
sondern sie produzieren für einen Absatz, der ihnen einen möglichst hohen
Profit einbringen soll. Die linke Kritik an diesen nachfrageorientierten Ansätzen
bleibt dann nicht selten bei dieser Feststellung stehen. Häufig wiederholt sie
nur die neoklassische Kritik am Keynesianismus, sozusagen mit linkem Vorzeichen
und fällt damit – kategorial gesprochen – auf die Argumentationsebene des
ersten Bandes des Marxschen „Kapital“ zurück (meistens auch der einzige Band,
der zur Kenntnis genommen wird). Zirkulation und Reproduktion des
gesellschaftlichen Gesamtkapitals finden aber unter den Bedingungen der
Konkurrenz, des Ausgleichs der Profitraten und der Umverteilung des Kapitals
auf die einzelnen Sphären statt, wobei dem Kreditsystem als einer sozusagen
unbewussten Steuerungsinstanz eine zentrale Rolle zukommt. Marx hat diesen
„Gesamtprozess kapitalistischer Produktion“ im dritten Band des „Kapital“
analysiert, und erst auf dieser kategorialen Ebene lassen sich die
angesprochenen Fragen überhaupt sinnvoll diskutieren. Dabei wird man jedoch
feststellen, dass es die unterstellten einfachen Antworten, aus denen jetzt nur
noch die richtige herauszusuchen wäre, gar nicht gibt.
Ein durch Lohnsteigerungen erhöhter Konsum kann für
die Unternehmen Anreiz zu beschleunigter Entwicklung der Produktivität und
höherer Produktion sein. Dabei ist der Umfang der vorgenommenen Investitionen
nicht durch das Ausmaß vergangener Profite beschränkt. Zumindest bei
unausgelasteten Kapazitäten, die in Krisenphasen vorhanden sind, kann
vermittelt über das Kreditsystem (das eben mehr bewerkstelligt als nur die
vorhandenen Ersparnisse umzuverteilen), mehr investiert werden als zuvor an
Profiten realisiert wurde. Die beschleunigte Akkumulation kann dann von
steigenden Profitraten begleitet sein. Die Betonung liegt in allen vorausgegangenen
Sätzen auf dem Wörtchen „kann“. Es kann auch anders sein. Steigender
Massenkonsum kann auch zu steigenden Inflationsraten führen, was bei
unveränderten Wechselkursen zur Abnahme der Exportkonjunktur und bei sinkenden
Wechselkurse zu Kapitalabflüssen führt. Kapitalismus ist in ganz
unterschiedlichen Varianten möglich. Kapitalistische Produktion kann nicht nur
bei niedrigen, sondern auch bei hohen Löhnen äußerst profitabel sein, genauso
wie sie unter Umständen selbst bei niedrigen Löhnen unprofitabel sein kann. Was
tatsächlich passiert, hängt von einer ganzen Reihe von historisch spezifischen
Faktoren ab, es handelt sich keineswegs um die immer gleiche allgemeine
Wirkungskette.
Phase 2: Und
was heißt das nun für die gegenwärtige Situation in Deutschland? Gibt es
tatsächlich eine Alternative zur rot-grünen Politik von Hartz IV und Agenda
2010?
Michael Heinrich:
Hartz IV brachte die
größten sozialen Einschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik. War dies
notwendig um die Profitabilität des deutschen Kapitals wieder herzustellen?
Keineswegs. In den 90er Jahren stagnierten oder sanken die Reallöhne, während
die Kapitalgewinne im zyklischen Durchschnitt angestiegen sind. Vor allem in
den letzten beiden Jahren sind die Gewinne der großen Unternehmen erheblich
gewachsen. Zugleich boomt der Export und die Binnenkonjunktur lahmt. Mit
Sozialkürzungen auf der einen Seite, Steuersenkungen für Unternehmen und
Bezieher hoher Einkommen auf der anderen Seite findet zwar eine Umverteilung
von „unten“ nach „oben“ statt, es verbessert sich dadurch aber nur die
Profitabilität der sowieso schon profitablen Exportsektoren. Da der Staat durch
die ständigen Steuersenkungen aber seine eigene Finanzbasis untergräbt, kann er
langfristig die für die Kapitalverwertung notwendige Infrastruktur immer
schlechter bereitstellen: in Prozentanteilen des Bruttoinlandprodukts gemessen,
waren die öffentlichen Investitionen in Deutschland noch nie so niedrig wie
heute. Die rot-grüne Politik war keineswegs so alternativlos, wie sie sich
gerne selbst darstellte. In diesem Punkt hat die Linkspartei schon recht.
Allerdings lassen sich durch eine andere Politik auch nicht alle Probleme
lösen, die der Kapitalismus mit sich bringt. Eine Rücknahme sozialer
Einschnitte, verstärkte öffentliche Investitionen und das ganze noch durch eine
Zinssenkung der Europäischen Zentralbank unterstützt, könnten durchaus die
Kapitalakkumulation antreiben und zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen.
Vollbeschäftigung wird sich damit in absehbarer Zeit aber auch nicht herstellen
lassen. Auch ist eine solche Politik nicht beliebig lange aufrecht zu erhalten.
Spätestens wenn die Inflationsrate ansteigt, werden auch die Zinsen wieder
steigen und auf dem Weltmarkt wird ein verstärktes Wachstum in Deutschland oder
der EU zu verschärfter Konkurrenz führen. Es gibt zwar durchaus politische
Spielräume und Alternativen, allerdings ist ein auf Dauer freundlicher,
krisenfreier Kapitalismus nicht zu haben, egal mit welcher Politik.
Phase 2: Und
was ist mit dem häufig zu hörenden Argument, dass das Kapital bei höheren
Löhnen und Sozialausgaben einfach ins Ausland abwandern würde? Die Boomregionen
Asiens bieten doch extrem günstige Anlagemöglichkeiten. Ist in einer
globalisierten Welt Massenwohlstand gar nicht mehr möglich, weil der
Nationalstaat zu viel Steuerungsfähigkeit gegenüber dem global vernetzten
Kapital eingebüßt hat?
Michael
Heinrich: Mit der
Abwanderung des Kapitals ist es nicht so einfach. Es existieren weltweit
ungeheure Lohnunterschiede. Bereits in Osteuropa liegen die Löhne zum Teil bei
nur 10 bis 30 Prozent des deutschen Lohnniveaus und in weiten Teilen Asiens
sind die Löhn noch niedriger. Ob die Lohnnebenkosten hierzulande um 2 Prozent
steigen oder sinken, fällt angesichts solcher Differenzen nicht ins Gewicht.
Die Branchen, die sich die Abwanderung leisten können, weil sie nur wenig
qualifizierte Arbeitskräfte und nur wenig Infrastruktur brauchen, sind schon zu
einem großen Teil weg, wie z.B. die Textilindustrie. Gerade in den
hochtechnologischen Branchen sind die Lohnkosten aber insgesamt kein
dominierender Faktor. Andererseits kommt es für diese Branchen nicht nur auf
die Qualifikation der Arbeitskräfte, sondern auch auf die Existenz eines
dichten Netzes von Zulieferern und Dienstleistern verschiedenster Art an. Dass
Lohnkosten für viele Branchen nur eine begrenzte Bedeutung haben, sieht man
bereits innerhalb Deutschlands: in den Regionen um Stuttgart und München ist
das Lohnniveau am höchsten und die Arbeitslosigkeit am geringsten, während in
Ostdeutschland die Löhne geringer als im Westen, die Arbeitslosigkeit aber
erheblich höher ist, trotz viel niedrigerer Lohnkosten wird dort nur wenig
investiert. Die flächendeckende Abwanderung von Kapital ist ziemlich
unrealistisch, einzelne Betriebe oder Produktionszweige werden jedoch
abwandern, egal ob die Löhne und Sozialabgaben sinken oder nicht. Was
allerdings ständig passiert, ist der Versuch der Unternehmen, einzelne
Belegschaften gegeneinander auszuspielen, nach dem Motto, wenn ihr beim Lohn
oder bei den Arbeitszeiten keine Zugeständnisse macht, dann kommt die nächste
Produktion an eine andere Stelle. Dazu ist es aber nicht einmal nötig die
nationalen Grenzen zu verlassen, wie vor nicht allzu langer Zeit
DaimlerChrysler vormachte, als die Stuttgarter Belegschaften dazu gezwungen
wurden, auf eine Reihe bezahlter Pausen zu verzichten – sonst würde die
Produktion nach Bremen verlagert, wo es diese Pausenregelung nicht gibt. Die
Bedingungen staatlicher Politik haben sich zwar erheblich verändert, von einem
generellen Verlust staatlicher Steuerungsfähigkeit aufgrund eines wild
wandernden Kapitals zu sprechen, wie es sowohl von neoliberaler Seite aus als
auch von linker Seite aus etwa bei Hardt/Negri geschieht, halte ich allerdings
für ziemlich daneben.
Phase 2: Es
bleibt aber doch die Frage, für wen die bunte Warenwelt produziert wird? In
einigen entwickelten Staaten wie Frankreich und Deutschland stagniert der
Konsum und die Armut steigt. In den Boomregionen Asiens wiederum scheint das
ökonomische Wachstum ohne eine unfassende Einbeziehung der Bevölkerung in den
Massenkonsum generiert zu werden. Wie und wo realisiert sich der Profit, wenn
steigende Armut wirklich zu einer Konstante des globalen Kapitalismus gehört?
Michael
Heinrich: Steigende
Armut, absolut oder relativ zum gestiegenen gesellschaftlichen Reichtum, auf der
einen Seite, Wachstum und wachsender Reichtum auf der anderen Seite schließen
sich im Kapitalismus keineswegs aus. Marx ging so gar soweit, dieses
Auseinanderdriften als „allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“
zu bezeichnen. Der Kapitalismus braucht zwar Konsum, aber er braucht keineswegs
die gesamte Bevölkerung als Konsumenten. Dass Wachstum mit einer Erhöhung des
Konsums der breiten Masse einhergehen müsse, ist gerade die falsche
Vorstellung, die in der Wirtschaftswunderzeit erzeugt wurde. In dieser Phase
ging Wachstum tatsächlich mit einer breiten Ausdehnung des Massenkonsums
einher, aber das war die Ausnahme in der Entwicklung des Kapitalismus. Wenn Ihr
von den asiatischen Boomregionen sprecht, dann seht Ihr ja, dass sich dort
Kapital verwerten kann, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung in Armut lebt
und dies wird wohl auch in den nächsten Jahrzehnten so sein. Um sich die
Entwicklungspotentiale vor Augen zu führen, muss man sich die Größenordnungen
klar machen, um die es geht. Deutschland hat 80 Millionen Einwohner, die USA
290 Millionen, die erweiterte EU insgesamt 455 Millionen und jetzt schauen wir
mal nach Asien: China hat 1,3 Milliarden Einwohner, Indien etwas über eine
Milliarde. Es kann gut sein, dass in diesen beiden Ländern auf Dauer über die
Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt, ein Teil davon vielleicht sogar in
absoluter Armut bis hin zum Hunger. Wenn aber auch nur 20-30 Prozent der
Bevölkerung dieser Länder in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einer
konsumfähigen Mittelschicht werden, und das scheint nicht unrealistisch zu
sein, dann wäre das ein Markt, der weit größer wäre, als die gerade erweiterte
EU. In einem Meer von Armut wird sich der Kapitalismus in den städtischen
Zentren im 21. Jahrhundert wahrscheinlich gewaltig entwickeln und dabei riesige
soziale Ungleichheiten und unüberschaubare ökologische Probleme hervorbringen.
Phase 2:
Welche Verwirklichungschancen haben dann heute die Forderungen nach besseren
Lebensbedingungen? Lassen sie sich wirklich mit der Propagierung eines
alternativen kapitalistischen Entwicklungsweges begründen, welches auf
Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung setzt, oder müssten sie sich nicht
notwendigerweise mit antikapitalistischen und emanzipatorischen Forderungen
verbinden, um Kapital und Staat, wenn nicht zur Aufgabe, dann vielleicht zu
sozialen Zugeständnissen zwingen zu können?
Michael
Heinrich: Die
Vorstellung über eine alternative Politik hierzulande irgendwann einmal wieder
Vollbeschäftigung zu erreichen, halte ich wenig plausibel: Vollbeschäftigung
gab es in der Vergangenheit auch in Deutschland nicht aufgrund einer
geschickten Politik, sondern einer bestimmten Konstellation von historischen
Ausnahmefaktoren. Demgegenüber befindet sich der Kapitalismus heute wieder in
seinem historischen „Normalzustand“: wachsende kapitalistische Kerne, die immer
größeren Reichtum hervorbringen, sind von einem Armutsgürtel umgeben, dessen
Größe und dessen Konstitution sich in den einzelnen Ländern erheblich
unterscheiden mag. Angesichts des enormen gesellschaftlichen Reichtums in den
entwickelten Ländern, gibt es natürlich Alternativen wie mit den
„Überflüssigen“, aber auch den Beschäftigten umgegangen werden könnte und es
ist durchaus nicht ohne Erfolgsaussichten politische und gesellschaftliche Kämpfe
um solche Alternativen zu führen. Zweierlei ist aber zu berücksichtigen. Zum
einen wird alles, was man bei diesen Kämpfen erreichen kann irgendwann wieder
in Frage gestellt. Die Dynamik des Kapitalismus ist nicht nur krisenhaft, im
Laufe der kapitalistischen Entwicklung werden auch die Grundlagen des
jeweiligen Akkumulationsmodells immer wieder umgewälzt. Das heißt die
„Geschäftsgrundlage“ von „Klassenkompromissen“, die in den Auseinandersetzungen
erreicht wurden, wird immer wieder unterminiert werden, nichts was einmal
erreicht wurde, ist dauerhaft gesichert. Zweitens, unter den herrschenden
kapitalistischen Bedingungen ist sicher ein besseres Überleben möglich und es
ist auch richtig und wichtig darum zu kämpfen. Das heißt aber nicht, dass ein
besseres Leben möglich wäre. Im Kapitalismus ist Leben in vielfacher Hinsicht
fremdbestimmt, die sachliche Gewalt der kapitalistischen Logik durchdringt die
gesamte Gesellschaft, die Lebensbedingungen bleiben unsicher und immer wieder
werden bestimmte Gruppen, von dem ausgeschlossen, was diese Gesellschaft als
„normale“ Möglichkeiten von Konsum und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
gestattet. Dem Kapitalismus wohnt ein systemisches Destruktionspotential inne,
nicht weil das Kapital unbedingt etwas zerstören will, sondern weil es in
seiner Jagd nach immer höheren Profiten, das, was es zerstört, Mensch und
Natur, gar nicht wahrnehmen kann. Diese Destruktionskräfte können zwar
teilweise eingeschränkt, sie können aber nicht stillgestellt werden und kommen
daher immer wieder zum Vorschein. Insofern bleibt, egal wie gut oder schlecht
das Überleben im Kapitalismus gerade gesichert ist, die Forderung nach
Emanzipation aktuell, nach einer „freien Assoziation“ der ProduzentInnen, die
eben nicht mehr von der sachlichen Gewalt kapitalistischer Logik beherrscht
wird.
Phase 2: Wir bedanken uns für das Gespräch