jungle world 1/2 , 24. Dezember 2002
Neue Grenzen
Die
griechische Regierung will im neuen Jahr die illegale Einwanderung zum
Schwerpunkt ihrer EU-Präsidentschaft machen. Sie tritt für eine strengere
Überwachung der neuen EU-Außengrenzen ein und will mit Hilfe von bilateralen
Abkommen die Flüchtlinge schneller in ihre Herkunftsländer abschieben.
Die
politische Landkarte Europas erfährt mit der bereits erfolgten und weiter
geplanten Ausdehnung der Nato sowie der gerade beschlossenen Ost-Erweiterung
der EU die bedeutendsten Veränderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Der Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen, der diese Landkarte nach 1945
dominierte, war zwar schon mit der Kündigung des Warschauer Vertrages und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion verschwunden. In den neunziger Jahren aber befanden
sich die Reste des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes noch in einem wenig
stabilen Übergangszustand. In den einstigen Satellitenstaaten der UdSSR wurden
nun fleißig der Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie nach
westlichem Muster eingeführt. So richtig zum Westen gehörten die
osteuropäischen Staaten jedoch nicht.
Obwohl es
die Mehrheit der Bevölkerung und die neu konstituierte politische Klasse nach
Westen drängte, blieben die Nato und die EU bis zum Ende der neunziger Jahre
mit ihrer formellen Ausweitung vorsichtig. Nicht nur, weil die Transformation
vom früheren Staatssozialismus zum Kapitalismus noch erhebliche Probleme mit
sich brachte. Auch auf Russland - keine Supermacht mehr, aber immerhin noch
eine Mittelmacht - nahm man dabei Rücksicht. Beide Gründe sind nun entfallen.
Die Transformation zu einem Kapitalismus nach westlichem Vorbild ist weitgehend
abgeschlossen. Und Russland ist bereit, sich weltpolitisch den westlichen
Interessen zu fügen, sofern seine regionale Hegemonie und die kriegerischen
Maßnahmen zu deren Durchsetzung, wie etwa in Tschetschenien, nicht in Frage
gestellt werden.
Mit der
gerade beschlossenen Aufnahme von acht osteuropäischen Staaten sowie der für
das Jahr 2007 geplanten Aufnahme von Bulgarien und Rumänien gehören nun alle
europäischen Satellitenstaaten der ehemalige UdSSR und sogar drei frühere
Sowjetrepubliken zur EU. Die ehemals »neutralen« Länder wie Schweden, Finnland
und Österreich wurden schon in den neunziger Jahren in die EU aufgenommen. In
Europa gibt es jetzt keine antagonistischen Bündnissysteme mehr, es gibt nur
noch den »Westen« in Gestalt der EU und der Nato. Daneben gibt es lediglich
einige Länder, die außerhalb stehen. Die Nachkriegsordnung ist endgültig
liquidiert.
Vom Vorhof zum Hinterhof
Die Mehrheit
der osteuropäischen Bevölkerung unterstützt die Westorientierung ihrer Regierungen.
Von der Aufnahme in die EU erwartet sie stabile politische und ökonomische
Verhältnisse, eine internationale Aufwertung und vor allem eine Steigerung
des persönlichen Wohlstands. Nach den Jahrzehnten sowjetischer Vorherrschaft
gilt der Beitritt zur EU als »Rückkehr nach Europa«. Man will von der »Zweiten«
in die »Erste« Welt aufsteigen.
Ursprünglich
bestand die EU nur aus Frankreich, Deutschland, Italien sowie den
Benelux-Staaten und kombinierte deren unterschiedliche Interessen. Der
deutschen Industrie sollte ein größerer Absatzmarkt eröffnet werden, die
französische sowie in geringerem Maße die deutsche Landwirtschaft sollten gegen
die Weltmarktkonkurrenz geschützt und Italien sollte eine nachholende
Entwicklung ermöglicht werden. Da die wirtschaftliche Leistungskraft der
beteiligten Länder nicht allzu weit auseinander lag und darüber hinaus die
Weltwirtschaft prosperierte, konnten alle Beteiligten ihre Ziele erreichen, was
den Mythos der EU als Wohlstandsmaschine begründete.
In
verschiedenen Erweiterungsrunden nahm die Union zunächst nur relativ starke
Volkswirtschaften auf. Erst mit der Süd-Erweiterung in den achtziger Jahren
(Griechenland, Spanien, Portugal) kamen Länder hinzu, die wirtschaftlich
wesentlich schwächer waren als der Durchschnitt der EU. Allerdings wurde auch
diese Erweiterung zu einer Erfolgsstory.
Mit Hilfe
beträchtlicher EU-Mittel gelang es, in den neuen Mitgliedsländern eine
Kapitalakkumulation zu initiieren, die auch den Lebensstandard der dortigen
Bevölkerung in die Richtung des EU-Durchschnitts bewegte. So wurden zugleich
günstige Absatz- und Investitionsmöglichkeiten für das Kapital aus den alten
Mitgliedsstaaten geschaffen, sodass sich deren Transferzahlungen durchaus
rentierten.
Dass den
neuen osteuropäischen Mitgliedern ein ähnlicher Erfolg beschieden sein wird,
ist jedoch nicht anzunehmen. Die wirtschaftliche Leistungskraft der neuen
osteuropäischen Mitglieder hat zum bisherigen EU-Durchschnitt einen erheblich
größeren Abstand als es vor 20 Jahren bei den südeuropäischen Ländern der Fall
war. Die zehn neuen Mitglieder bringen zwar 75 Millionen neue Bürger in die
Union, sodass sich deren Bevölkerungszahl um rund 20 Prozent erhöht. Der Zuwachs
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt aber nur vier Prozent. Anders
ausgedrückt, macht das gesamte BIP der zehn neuen Mitglieder nur etwa zwei
Drittel des BIP Spaniens aus.
Gleichzeitig
wird die EU, deren Mitglieder sich zur Haushaltskonsolidierung verpflichtet
haben, für die Integration der neuen Mitglieder erheblich weniger Mittel
aufwenden als bei der Süd-Erweiterung. Auch bei den Agrarhilfen, dem mit weitem
Abstand größten Ausgabenposten des EU-Haushalts, werden die neuen Mitglieder
auf Jahre hinweg schlechter abschneiden als die alten.
Selbst die
stets optimistische EU-Kommission rechnet mit einer Angleichung der
Lebensverhältnisse erst in zwei Jahrzehnten, aber nicht einmal das dürfte
realistisch sein. Stärker als jemals zuvor wird sich die EU in wirtschaftlich
unterschiedlich entwickelte Regionen differenzieren, wobei Osteuropa die Rolle
des auf lange Zeit unterentwickelten Hinterhofes zukommen wird.
Das dürfte
auch den Regierungen in Budapest, Tallinn und Warschau klar sein, die sich so sehr
um eine EU-Mitgliedschaft bemühten. Ein Hinterhof innerhalb der EU zu werden,
erscheint ihnen immer noch besser, als ein Vorhof außerhalb der EU zu bleiben.
Angesichts der übertriebenen Erwartungen, die in großen Teilen der Bevölkerung
der neuen Mitgliedsländer bestehen, werden Enttäuschungen kaum ausbleiben, was
wieder den Nährboden für nationalistische und rassistische Tendenzen bilden
dürfte.
Zentrum und Peripherie
Für die
alten Mitgliedsländer der EU werden die Auswirkungen der Erweiterung zunächst
begrenzt bleiben. Denn schon die gesamten neunziger Jahre über diente Osteuropa
vor allem dem deutschen Kapital als Absatzmarkt für Waren sowie als Gebiet für
Direktinvestitionen, bei denen die niedrigen Lohnkosten ausgenutzt wurden. Mit
der Ost-Erweiterung werden sich diese Verhältnisse nicht grundlegend ändern,
sondern stabilisieren. Die osteuropäischen Ökonomien werden in einer
untergeordneten Position in eine vor allem von westlichen Konzernen
organisierte Arbeitsteilung eingebunden werden.
Die neuen
Mitglieder müssen nicht nur den acquis communautaire, das gemeinsame Regelwerk
der EU, übernehmen. Sie müssen sich auch an eine Vielzahl scheinbar neutraler
technischer Standards anpassen, die schon längst vom transnationalen
europäischen Kapital gesetzt und benutzt werden und die ihm etwa im
Telekommunikationssektor auch Konkurrenzvorteile versprechen.
Allerdings
erfährt die alte EU nicht nur eine Erweiterung, sondern seit Jahren auch eine
fortschreitende »Vertiefung« ihres ökonomischen und politischen Zusammenhangs.
Wichtige Etappen waren hier die Etablierung des Binnenmarkts und die Einführung
des Euro.
Dieser
Vertiefungsprozess, der der internationalen Konkurrenzfähigkeit des
europäischen Kapitals dienen soll, wird durch den seit den achtziger Jahren
herrschenden Neoliberalismus strukturiert, der allerorten auf Deregulierung und
Flexibilisierung setzte.
Allerdings
blieb dieser kontinentaleuropäische Neoliberalismus im Vergleich zum
amerikanischen oder britischen in den meisten EU-Staaten teilweise korporativ
gebunden, was vor allem auf die starke Position der Gewerkschaften
zurückzuführen ist.
Von den
Beitrittsländern wird nun im Zuge des Erweiterungsprozesses eine viel
radikalere Form neoliberaler Deregulierung und Flexibilisierung verlangt, sodass
man prognostizieren kann, dass sich die »Fortschritte« der neuen Mitglieder
bald auf die alten auswirken werden, deren »verkrustete Strukturen« schon lange
der Gegenstand marktradikaler Kritik sind.
Ein
wichtiges Element dieses Vertiefungsprozesses besteht auch darin, eine Reihe
einst nationalstaatlicher Kompetenzen an suprastaatliche Einrichtungen der EU
zu übertragen. Dieser Prozess lässt manche schon einen europäischen Bundesstaat
erhoffen oder befürchten. Zwar ist ein solcher Bundesstaat noch auf längere
Sicht nicht zu erwarten, dafür sind die Interessenunterschiede der einzelnen
Länder noch zu groß.
Doch wird
sich die »Staatlichkeit« erheblich verändern. Bereits jetzt bildet sich ein
»Kerneuropa« heraus, das immer stärker durch gemeinsame Institutionen wie etwa
den Euro und eine gemeinsame Politik verbunden ist, während die übrigen
EU-Mitglieder einen mehr oder weniger mit diesem Kern verbundenen Rand
darstellen.
Die Reform
der EU-Institutionen dürfte diesen Trend zu einem Kerneuropa weiter beschleunigen.
Bei 25 Mitgliedsstaaten können die Gremien schon aus pragmatischen Gründen kaum
nach dem Konsensprinzip organisiert werden. An die Stelle einstimmiger
Entscheidungen werden Mehrheitsvoten treten, bei denen die großen Länder ein
entsprechend größeres Gewicht bekommen werden.
Transatlantische Konkurrenz
Die neue
EU will nicht nur eine ökonomische Regulation der Kapitalakkumulation
bewerkstelligen, sondern auf internationaler Bühne auch größeren politischen
Einfluss ausüben. Mit der geplanten schnellen EU-Eingreiftruppe, die nicht mehr
der Landesverteidigung, sondern der weltweiten Intervention dient, sowie den
auf eine bessere Transport- und Kommunikationskapazität zielenden
Beschaffungsprogrammen soll dieser Anspruch militärisch untermauert werden.
Politisch und ökonomisch dürfte sich damit die Konkurrenz der EU vor allem zu
den USA weiter verschärfen.
Von der
Bevölkerungszahl her übertrifft die EU bereits jetzt die USA. Wirtschaftlich
und teilweise auch technologisch hinkt die EU allerdings bisweilen noch
hinterher. Das Bruttoinlandsprodukt der EU beträgt nur etwa 85 Prozent
desjenigen der USA. Die größte Lücke klafft aber auf militärischem Gebiet, und
sie ist auch nicht in kurzer Zeit zu schließen. Bisher war die EU auch nicht
sonderlich daran interessiert, sparte man so doch Milliarden an
Rüstungsausgaben. Will die EU aber zu einem weltpolitischen Machtfaktor werden,
dann wird sie auch eine weltweit einsatzfähige Truppe aufbauen müssen.
Auch die
USA sehen diese größer werdende Konkurrenz zur EU. So dürfte sich ihr Drängen
auf den Aufbau einer Nato-Interventionstruppe vor allem als Antwort auf die
geplante EU-Eingreiftruppe verstehen. Mit Hilfe der Nato soll die militärische
Hegemonie Washingtons auch gegenüber den militärischen Bestrebungen der EU
aufrechterhalten werden. Dabei wünschen die USA durchaus verstärkte
Rüstungsanstrengungen der EU-Staaten, solange diese ihrer eigenen Entlastung
dienen und sich der US-amerikanischen Hegemonie fügen.
Auch das
starke Engagement der USA für eine Aufnahme der Türkei in die EU dürfte nicht
nur ihrem Interesse an der politischen und ökonomischen Stabilisierung dieses
strategisch wichtigen Landes geschuldet sein. Vermittelt über das in der Türkei
politisch einflussreiche Militär hätten die USA einen treuen Bündnispartner in
der EU gewonnen. Und genau das mag, neben der Angst vor Instabilität und
Migration, auch einer der Gründe dafür sein, dass eine baldigen Aufnahme der
Türkei in die Union von der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten abgelehnt wird.
Außerparlamentarische Reserven
Teile der
globalisierungskritischen Bewegung erwarten viel von der sich neu formierenden
Europäischen Union. Gegenüber den »neoliberalen« USA verweist man auf die
sozialstaatlichen Traditionen Europas, gegenüber einem aggressiven US-amerikanischen
Imperialismus plädiert man für eine auf Ausgleich bedachte europäische
Friedenspolitik.
Diesem
allzu positiven Bild der EU lässt sich entgegenhalten, dass auch die EU
kapitalistisch organisiert ist. So liegt der Zweck des Sozialstaates nicht
darin, das angenehme Leben zu ermöglichen. Er ist keine Sicherung der Menschen,
sondern der Arbeitskraft, die dem Kapital auch nach einer Krankheit oder der
Arbeitslosigkeit wieder in alter Frische zur Verfügung stehen soll. Umstritten
ist die Frage, wie viel Sozialstaat nötig ist und was die Sicherung der
Arbeitskraft kosten darf. In diesen immer wieder aufbrechenden Konflikten
dürften spezifisch europäische Traditionen aber keine allzu große Rolle
spielen.
Ähnlich
problematisch verhält es sich mit der besonderen Friedensliebe, die den
europäischen Staaten in Abgrenzung zum US-amerikanischen Imperialismus
attestiert wird. Denn wo für die EU militärische Lösungen möglich sind, machte
sie in der Vergangenheit durchaus davon Gebrauch, was nicht zuletzt der Kosovokrieg
zeigte. Nur ist die EU nicht in der hegemonialen Position wie die USA. Die
Idee, EU-Interessen notfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen, ist in
vielen Fällen schlicht unrealistisch, weswegen gerne über friedliche Lösungen
debattiert wird. Ändern sich die Voraussetzungen, wird auch von der
Friedensliebe nicht mehr viel übrig bleiben.
Die neue
EU-Staatlichkeit und ihre weltpolitischen Ambitionen bedürfen allerdings der
Legitimation gegenüber der eigenen Bevölkerung. Und dabei kann eine Protestbewegung,
die von der EU vor allem Gutes erwartet, durchaus hilfreich sein.