Michael Heinrich

Lahme Politik, undemokratischer Markt

Zum Umgang der „Globalisierungsgegner“ mit Staat und Kapital

(in: Konkret 9/2001, S. 20-21)

 

Spätestens seit Seattle gibt es kein Treffen von WTO, IWF, G8 etc., das nicht von Massendemonstrationen begleitet wird. Der militante Flügel der „Globalisierungsgegner“ hat den Ehrgeiz diese Veranstaltungen möglichst medienwirksam zu stören, während die gastgebenden Regierungen immer mehr Aufwand treiben, um genau dies zu verhindern. Nicht nur Kontrollen im Vorfeld und die direkte Absperrung ganzer Stadtviertel, sondern auch die Brutalität der Polizei erreichen dabei immer neue Rekordmarken: nachdem in Göteborg bereits die ersten Schüsse fielen, gab es in Genua neben unzähligen Verletzten auch den ersten Toten.

Gleichzeitig erfreuen sich die demonstrierenden „Globalisierungsgegner“ im linksliberalen Teil der bürgerlichen Medienlandschaft zunehmender Beliebtheit. Zwar wird dort die Gewalt der Militanten pflichtschuldigst verurteilt, den Anliegen der „friedlichen“ Mehrheit steht man aber durchaus aufgeschlossen gegenüber. „Eine neue, erstmals wirklich internationale Protestgeneration heizt Politikern und Konzernchefs ein - und zwar zu Recht“ untertitelte der Spiegel seine Story zu den Protesten in Genua. Fast könnte man meinen, eine neue antikapitalistische Bewegung sei bereits weit in die Gesellschaft vorgedrungen.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das „Reich des Bösen“ verschwunden und die allein übrig gebliebenen „Guten“ konnten von künftigem Frieden und Wohlstand faseln. Die europäische Sozialdemokratie, ob nun in England, Schweden oder Deutschland schwenkte auf eine weitgehend neoliberale Politik ein. Auch viele ehemalige Linke begannen mit „Markt“ und „Zivilgesellschaft“ ganz ähnliche Heilsversprechen zu verbinden, wie früher mit ihren diversen K-Grüppchen. Doch nach den Kriegen und Krisen der 90er Jahre, der verschärften Weltmarktkonkurrenz und dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungen ist der Glaube an diese Versprechungen erheblich erschüttert. Selbst die noch immer ganz gut verdienenden Mittelschichten in den Metropolen können sich die häßlichen Seiten des Kapitalismus zumindest wieder vorstellen. Dass der scheinbar ewige Boom der US-Ökonomie und die Hausse an den Aktienmärkten nun doch ein - zumindest vorläufiges - Ende gefunden haben, tut ein übriges, um die Skepsis zu verstärken. Da braucht es dann nicht viel, um auf den Gedanken zu kommen, dass immer nur „mehr Markt“ vielleicht doch nicht die automatische Lösung aller Probleme ist. Inzwischen verlangt selbst Georg Soros, der als Spekulant Milliarden an diesem Markt verdiente, nach mehr „Regulation“ - ganz wie die „Globalisierungsgegner“.

Was von den Medien unter diesem Etikett zusammengefaßt wird, ist eine Sammlung unterschiedlichster Gruppen und Initiativen, die aus entwicklungs- und umweltpoltischen, aus kirchlichen und gewerkschaftlichen Zusammenhängen stammen. Angeprangert werden Hunger und Elend in der Dritten Welt genauso wie Sozialabbau und Arbeitslosigkeit in den kapitalistischen Metropolen. Dem Mainstream der Globalisierungsgegner gelten diese nicht unbedingt neuen Phänomene als Konsequenz des mit der Globalisierung „entfesselten Kapitalismus“. Angetrieben von den unkontrollierten internationalen Finanzmärkten zähle für die Unternehmen nur noch der „Shareholder-Value“. Eine Art „zeitgenössischer Manchesterkapitalismus auf globalem Niveau ... unreguliert und destruktiv“ sei entstanden (so Peter Wahl in der ATTAC-Beilage der taz vom 29.6.2001). Konzerne und Kapitalanleger würden sich „trotz satter Gewinne und Vermögenszuwächse vor ihrer sozialen Verantwortung drücken“ (Christoph Bautz, ebenda). Solche Kritik am „entfesselten“ Kapitalismus speist sich offensichtlich aus der Vorstellung von einem normalen Kapitalismus, der nicht destruktiv sondern reguliert ist, in dem die Unternehmer ihre soziale Verantwortung kennen, es den Menschen immer besser geht und der sich bei entsprechender Steigerung der Entwicklungshilfe und „gerechten“ Preisen mit seinen Segnungen schließlich auch auf die Dritte Welt ausdehnen ließe. Unschwer ist hinter dieser Vorstellung ein idealisiertes Bild des von Mitte der 50er bis zu den frühen 70er Jahre dauernden Wirtschaftswunderkapitalismus zu erkennen. Im weitgehend krisenfreien „Golden Age“ des Fordismus gab es tatsächlich annähernd Vollbeschäftigung, steigende Reallöhne und einen Ausbau sozialer Leistungen. Doch blieb diese nur ca. 20 Jahre dauernde Phase auf die kapitalistischen Zentren Nordamerikas und Westeuropas beschränkt. Und auch dort war sie keineswegs Ausdruck einer besonderen sozialen Verantwortung der Unternehmer, sondern beruhte auf einer spezifischen Konstellation sowohl binnen- als auch weltwirtschaftlicher Faktoren. Nur im Vergleich mit dieser in ihren sozialen Auswirkungen etwas moderateren Phase der Kapitalakkumulation und der mit ihr verbundenen harmonistischen Illusion eines dauerhaften „keynesianischen Klassenkompromisses“ kann die gegenwärtige Entwicklung als „Entfesselung“ gelten.

Allerdings ist der gegenwärtige Kapitalismus auch nicht einfach die Rückkehr in die Vor-Wirtschaftswunder-Zeit. Die Existenz eines weitgehend internationalisierten Finanzsystems ist in der Tat ein historisches Novum - nicht aber, dass die Kapitalakkumulation über das Finanzsystem bewußtlos und krisenhaft gesteuert wird. In der Rhetorik der Globalisierungsgegner erscheint die Dominanz des Finanzkapitals jedoch als etwas völlig Neues. Für die Verteilung des Kapitals auf die einzelnen Anlagesphären war aber auch schon früher der Kredit (sowie sämtliche darauf aufbauenden Formen des fiktiven Kapitals) und nicht allein der in diesen Sphären bereits erzielte Profit die entscheidende Größe. Industrielles Kapital und die verschiedenen Formen des Finanzkapitals sind immer schon aufeinander bezogen, Kredit und Spekulation ist nichts, was sozusagen „von außen“ zu einer auch ohne Kredit funktionierenden kapitalistischen Produktion hinzutritt. Kredit (sowie Geldkapital, das in Aktien, Optionen etc. angelegt werden soll) fließt aber nur dorthin, wo die höchsten Profite erwartet werden und nur wenn diese Erwartungen erfüllt werden, reißt der Kapitalstrom nicht ab. Allerdings sind es jetzt nicht mehr national beschränkte Finanzsysteme, die national begrenzte Rentabilitätskriterien setzen, vielmehr definiert das internationalisierte Finanzsystem für immer größere Teile des Kapitals zunehmend globale Standards der Kapitalverwertung, denen die Einzelkapitale nur genügen können, wenn sie auch tatsächlich als „Global Players“ agieren.

Dass der Weltmarkt „überhaupt die Basis und die Lebensatmosphäre der kapitalistischen Produktionsweise bildet“ wie Marx im dritten Band des Kapitals festhielt, wird erst jetzt praktisch wahr. Ein globaler Konkurrenzkapitalismus ist im Moment gerade dabei Gestalt anzunehmen und zu dieser Gestalt werden auch schärfere Krisen (die sich über das globale Finanzsystem wesentlich schneller verbreiten können als früher), begrenzte Kriege und häufigere Verelendungsprozesse gehören. Diese unangenehmen Seiten der Kapitalakkumulation stellen nun aber nicht die große historische Ausnahmesituation dar: sie künden weder von einer bevorstehenden Apokalypse, wie die Vertreter der Zusammenbruchstheorie prophezeien, noch sind sie Ausdruck des pathologischen Zustands eines ansonsten gesunden Kapitalismus. Es handelt sich vielmehr um die ganz normalen Konsequenzen einer sich global verallgemeinernden Produktionsweise, deren einziger Zweck die Verwertung des Werts ist.

Für den Mainstream der Globalisierungsgegner ist das Elend der Welt dagegen Ausdruck einer „Entfesselung“ des Kapitalismus. Als Problem gilt nicht schon die Art und Weise wie der Reichtum produziert, sondern erst wie er verteilt wird. Daher ist es nur konsequent, wenn mittels intelligenter Regulation der Märkte, „gerechter“ Besteuerung der Kapitaleinkommen und „fairen“ Preisen für die Produkte der Dritten Welt der Kapitalismus wieder zurück auf den Pfad der Tugend geführt werden soll. Da die internationalen Finanzmärkte als die entscheidende Triebkraft hinter dem „entfesselten Kapitalismus“ angesehen werden, sind sie es, die vor allem gezähmt werden sollen. Nicht zufällig ist ein zentraler Akteur der Anti-Globalisierungsbewegung daher ATTAC, die ursprünglich aus Frankreich stammende „Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der BürgerInnen“.

Allerdings sehen die Globalisierungsgegner den Staat, von dem sie sich die Rettung vor dem entfesselten Kapitalismus versprechen, zunächst einmal selbst bedroht: die „Macht der Finanzmärkte“, warnt Attac, „untergräbt die Demokratie“ (Erklärung für eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte). Den allzu lahmen Politikern muss deshalb erst noch auf die Beine geholfen werden, gesellschaftliche Bewegung, nationaler und internationaler Druck soll dies erreichen: „Nur dann wird die etablierte Politik die Interessen der Mehrheit der Menschen gegen die Interessen der Wirtschaft vertreten“ (ebd.). Die „etablierte Politik“ soll zum Bündnispartner im Kampf gegen den entfesselten Kapitalismus werden: etwas Druck von der Straße, um die Politiker aufzurütteln und dann muß man es ihnen nur noch richtig erklären, wie sie mittels Tobin-Steuer und verbesserter Bankenaufsicht den Turbokapitalismus ausbremsen können.

Aus dieser Perspektive erscheinen dann die Dialogangebote der „Globalisierungsverfechter“ bereits als Erfolg: „Allein die Tatsache, dass sie den Widerstand nicht länger ignorieren können und auf uns zugehen, ist doch schon ein großer Sieg“ (Susan George, Vizepräsidentin von ATTAC-Frankreich in der taz-Beilage vom 29.6.2001). Da Dialogbereitschaft und Verständnis für die Probleme der Welt Staat und Unternehmen nichts kosten, wird es wohl noch viele solcher Siege geben. Und auch manch praktischer Erfolg wird sich feiern lassen: die von den Globalisierungskritikern geforderte Schuldenstreichung für Entwicklungsländer stand auch auf der Tagesordnung des G8 Gipfels in Genua: immerhin sollen die 23 ärmsten Länder in den Genuß dieser Maßnahme kommen - bei ihnen ist nämlich sowieso nicht mehr viel zu holen.

Wie so oft erscheint hier der Staat als ein im Grunde neutrales Instrument, das für verschiedene Zwecke benutzt werden kann. Kommt nun der Staat seiner eigentlichen Bestimmung (wie man sie aus jedem Sozialkundelehrbuch entnehmen kann), nämlich dem „Gemeinwohl“ zu dienen, nicht mehr nach, dann müssen die Politiker eben unter Druck gesetzt werden, das Richtige und Gute zu tun. Nicht nur in kritischen Kirchenkreisen auch bei vielen Linken herrscht die Vorstellung staatliche Politik sei in erster Linie das Ergebnis von „Kräfteverhältnissen“, sozialstaatliche Institutionen dienten vor allem der „Befriedung“ aufmüpfiger Massen etc. Die grundsätzliche Formierung staatlicher Politik jedoch, die unabhängig vom Wollen der einzelnen Politiker und noch allen Kräfteverhältnissen vorgelagert ist, bleibt dabei aber ausgeblendet. Der rechte Sozialdemokrat Helmut Schmidt wußte da besser Bescheid. Sein bekannter Satz aus den 70er Jahren „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“ macht unfreiwillig deutlich, worum es geht: sofern die Wirtschaft kapitalistisch organisiert ist, muß zunächst einmal die Kapitalverwertung sichergestellt sein - ansonsten entzieht sich der Staat mit wachsenden Arbeitslosenzahlen und geringeren Steuereinnahmen ganz schnell die eigene materielle Basis. Alles andere kommt, wenn überhaupt, erst später.

Die Sicherung der Kapitalverwertung ist für den Staat unumgänglich; doch liegt es nicht immer auf der Hand, welche Maßnahmen dafür im Einzelnen erforderlich sind. Es ist gerade die Aufgabe „demokratischer Politik“ zu ermitteln, was langfristig für „unsere Wirtschaft“ am besten ist: inwieweit die Partikularinteressen der einzelnen Kapitalfraktionen befriedigt oder auch übergangen werden müssen, welche künftigen Anforderungen berücksichtigt werden müssen, um in der Weltmarktkonkurrenz bestehen zu können, wie die Existenz der LohnarbeiterInnen als LohnarbeiterInnen sozialstaatlich am besten sichergestellt werden kann und wie die dabei anfallenden Lasten so verteilt und legitimiert werden können, dass die staatliche Politik das größtmögliche Maß an Zustimmung findet.

In diesem Alltagsgeschäft bürgerlicher Politik sind zumindest die wichtigsten Protagonisten der „Anti-Globalisierungsbewegung“ schon längst angekommen. Hier läßt sich über „gerechtere“ Steuern, „bessere“ Entwicklungspolitik oder einen „ökologisch nachhaltigeren“ Kapitalismus aber auch über die Reform von Institutionen wie der WTO oder des IWF trefflich streiten. Und dass die Globalisierungsgegner überhaupt keinen Beitrag zum besseren Funktionieren des Kapitalismus leisten könnten, ist keineswegs ausgemacht. Wenn erst einmal eine „demokratische Wirtschaftspolitik“ etabliert ist, dann machen sie sogar ihren Frieden mit den im Moment so stark gescholtenen Finanzmärkten: dann hat man endlich „den Rahmen, in den Finanzmärkte eingebunden werden müssen, und in dem sie eine sinnvolle und wichtige Rolle spielen können“ (Jörg Huffschmid in der ATTAC-Beilage zur taz vom 29.6.2001).

Die Globalisierungskritiker sind stolz darauf, wie „pluralistisch, unideologisch, radikal und pragmatisch“ sie sind (Peter Wahl in der ATTAC-Beilage zur taz) und für ihr „pragmatisches“ und „unideologisches“ Vorgehen werden sie denn auch von Spiegel bis Zeit mit Lob überschüttet. Der Ideologievorwurf wurde der Linken immer dann gemacht, wenn es statt um punktuelle Verbesserungen um eine grundsätzliche Kritik an Staat und Kapital ging und gerade weil man in dieser Hinsicht zumindest beim Mainstream der Globalisierungsgegner keine Befürchtungen haben muß, wird ihr Protest durchaus willkommen geheißen. Wenn dagegen Joschka Fischer im Zusammenhang mit den Protesten von Genua vor einem „abgestandenen, linksradikalen Antikapitalismus“ warnt (Süddeutsche Zeitung vom 28.7.2001), dann zeigt dies lediglich wie weit er bereits den Habitus des Konservativen verinnerlicht hat, der hinter jedem Protest schon den Umstürzler lauern sieht. Aber man kann Fischer und Konsorten beruhigen: Für die meisten Globalisierungsgegner trifft zu, was der Spiegel beobachtet hat: „Weil ihnen keine Alternative zum Kapitalismus einfällt, sehnen sie sich nur nach einem menschlicheren Kapitalismus“.