Interview in phase 2.01 August
2001
Unter dem Begriff „Globalisierung“
werden die unterschiedlichsten Vorstellungen und Konzepte zusammengefasst. Was
beschreibt der Begriff überhaupt?
Heinrich: Mit diesem Begriff wird
auf neue Entwicklungen des kapitalistischen Weltsystems reagiert, ökonomische
und politische Transformationen, die in den letzten 10-15 Jahren deutlich
wurden. Die weltwirtschaftliche Verflechtung hat enorm zugenommen. Damit wurde
auch die Politik der einzelnen Nationalstaaten neuen Bedingungen unterworfen.
Umstritten sind allerdings Ausmaß und Konsequenzen dieser Transformationen. Von
Neoliberalen bis hin zu Teilen der Sozialdemokratie werden die „Chancen“ der
Globalisierung für einen erneut prosperierenden Kapitalismus betont, von dem
wir dann alle - irgendwann einmal - etwas haben sollen; von vielen
Gewerkschaften, NGOs, aber auch manchen Konservativen werden dagegen die
Gefahren für den Sozialstaat, für den Umweltschutz oder auch für die
Handlungsfähigkeit des Staates hervorgehoben - die Motive wie auch die
politischen Ziele dieser „Globalisierungsgegner“ sind äußerst unterschiedlich.
Und schließlich wird auch noch die Position vertreten „Globalisierung“ sei
lediglich ein Mythos, eine ideologische Konstruktion, um eine bessere
Rechtfertigung für eine kapitalfreundliche Politik zu erhalten.
Wenn „Globalisierung“ eine
sinnvolle Kategorie ist, um welche Prozesse geht es dann im einzelnen?
Heinrich: Zunächst einmal bildete
sich in den 70er und 80er Jahren ein weitgehend internationalisiertes Finanzsystem
heraus, ein System, das für einen großen Teil der Wirtschaft die „Standards“,
d.h. die Maßstäbe der Kapitalverwertung vorgibt. Dann kam es Ende der 80er
Jahre zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Zwar hatten die osteuropäischen Länder
auch schon früher Handels- und Kreditbeziehungen zum kapitalistischen Westen,
doch erst nach 1989 setzte die kapitalistische Transformation ihrer Produktionsverhältnisse
ein. Nachdem inzwischen auch China eine weitgehend kapitalistische Entwicklung
anstrebt, kennt das Kapital praktisch keine geographische Grenze mehr. Gleichzeitig
hat die Verflechtung zwischen den einzelnen kapitalistischen Ländern, und
zwar nicht nur zwischen den entwickelten Westeuropas und Nordamerikas, sondern
auch den sog. Schwellenländern Ostasiens, teilweise auch Lateinamerikas enorm
zugenommen, woran auch die neuen und billigen Möglichkeiten des Transports
und der Kommunikation nicht unwesentlich beteiligt sind. Der „nationale“ Raum
spielt für große (und größer werdende) Teile des Kapitals eine immer geringere
Rolle. Damit einher geht dann auch eine gewisse Transformation der politischen
Rolle der Nationalstaaten; vor allem ihre wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglichkeiten
sind gegenüber früheren Jahrzehnten erheblich eingeschränkt.
Du beschreibst eine zunehmende
Internationalisierung des Kapitalverhältnisses. Aber gab es eine Tendenz dazu
denn nicht schon immer? Was ist denn wirklich neu an der Globalisierung?
Heinrich: Sicher, das Kapital
hatte immer schon die Tendenz sich auszudehnen, alle Grenzen zu überwinden. Das
galt schon für die frühe handelskapitalistische Phase im 16. und 17.
Jahrhundert und es galt auch während der Durchsetzung des Industriekapitalismus
im 19. Jahrhundert. Es wurde ja schon oft hervorgehoben, dass der
internationale Handel, die Migration etc. kurz vor Beginn des ersten
Weltkrieges ähnliche Ausmaße hatte wie heute. In der Tat gab es Ende des 19.
Jahrhundert einen ersten Globalisierungsschub auf der dort erreichten
industriekapitalistischer Basis. Allerdings war dieser Schub noch begrenzt:
England war die hegemoniale Macht, Frankreich, Deutschland und die USA holten
gerade erst auf und ansonsten gab es nur einen peripheren Kapitalismus, sowie
kapitalistische Kolonien. „Globalisierung“ fand auf einer beschränkten Basis
statt und mit einem Finanzsystem, das erheblich weniger internationalisiert war
als heute. Mit dem ersten Weltkrieg und mit der 1929 einsetzenden
Wirtschaftskrise fand dieser Globalisierungsschub dann sein Ende. In den 30er
Jahren brach der Welthandel regelrecht zusammen, „nationale“ Entwicklungen
dominierten (der „New Deal“ in den USA, faschistische Systeme in Deutschland
und Italien, aber auch die Sowjetunion mit ihrem Versuch einer nachholenden
Akkumulation). Nach dem zweiten Weltkrieg gab es mit den USA zwar wieder eine eindeutige
Hegemonialmacht, diese hatte aber in der Sowjetunion einen Gegenspieler,
welcher der räumlichen Expansion des Kapitalverhältnisses Grenzen setzte und
der, nachdem die meisten Kolonien unabhängig geworden waren, auch in der sog.
Dritten Welt zum Gegenspieler des kapitalistischen Westens wurde (nebenbei
bemerkt: dass die UdSSR Gegenspieler des Westens war, heißt nicht, dass sie für
ein emanzipatorisches Projekt gestanden hätte). Die Welt als Ganze war im
größten Teil des 20. Jahrhunderts in gewisser Hinsicht fragmentierter als in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Zustand, der sich erst in den
letzten 10-15 Jahren grundlegend änderte, jetzt aber auf einer ganz anderen,
breiteren Grundlage, die sowohl die ökonomischen Verhältnisse (hier insbesondere
das Finanzsystem) wie auch die politischen betrifft.
Du hast mehrfach das Finanzsystem
erwähnt, welche Rolle spielt dieses System und warum ist es so wichtig, dass es
heute stärker internationalisiert ist als früher?
Heinrich: Das Finanzsystem, also
vor allem die Kapitalmärkte, auf denen mit Anleihen, Aktien, Währungen sowie
verschiedenen abgeleiteten Größen, den Optionen, Derivaten etc. gehandelt wird,
ist gewissermaßen das „Steuerungszentrum“ einer kapitalistischen Ökonomie.
Nicht im Sinne einer bewußten Steuerung durch eine bestimmte Gruppe von
Personen, sondern in einem strukturellen Sinn. Richtung und Umfang der
Kapitalakkumulation wird ganz entscheidend über die Bedingungen auf den
Finanzmärkten bestimmt: Kreditausweitung oder -einschränkung, Höhe der
Zinssätze, Bewertung von Aktien etc. Diese Steuerungsfunktion hatte das
Finanzsystem auch schon früher, nur war es da im wesentlichen national
organisiert (mit einigen internationalen Zentren). In den letzten 20 Jahren hat
sich ein zunehmend internationalisiertes System herausgebildet, das weltweite
Standards für das Kapital definiert. Wir haben damit zwar noch längst keinen
einheitlichen Weltkapitalismus, aber wir haben auch keinen nationalen
Kapitalismus mehr, der in erster Linie an Zins- und Rentabilitätsgrößen
orientiert ist, die innerhalb eines nationalen Wirtschaftsraumes definiert
werden.
Gerade vor dem Hintergrund solcher
Prozesse wird manchmal von einer Auflösung der Nationalstaaten im Zuge der
Globalisierung geredet. Findet das „Absterben des Staates“ von dem Engels mit
Bezug auf den Sozialismus gesprochen hat also schon während des Kapitalismus
statt?
Heinrich: Nein, von einer
„Auflösung“ der Nationalstaaten, kann keine Rede sein. Es war staatliche
Politik, die mit der Deregulierung der Finanzsysteme in den 70er Jahren die
Internationalisierung des Finanzsystems ganz wesentlich beschleunigten, es sind
Vertreter der Nationalstaaten, die im Rahmen der WTO über den zukünftigen
Rahmen des Welthandels entscheiden und es sind nicht zuletzt Staaten, die nach
wie vor Krieg wie führen. Allerdings findet nationalstaatliche Politik heute
unter anderen Rahmenbedingungen statt, so haben sich etwa haben die
wirtschaftspolitischen Möglichkeiten verändert, vor allem was den Einfluß auf
Zinssätze und Wechselkurse angeht. Das alles hat aber nicht zum Verschwinden,
sondern zu einer Transformation von Staatlichkeit geführt: Ohne dass sich die
Nationalstaaten auflösen, werden „Transnationale“ Formen von Staatlichkeit
immer wichtiger (WTO, NATO, IWF etc.), teilweise bilden sich auch neue
„internationale“ Staatsformen heraus wie etwa im Rahmen der EU. Die einzelnen
Nationalstaaten handeln gleichzeitig auf einer Vielzahl von transnationalen
Ebenen, wodurch Konflikte eine komplexere Struktur bekommen: Staaten, die im
Rahmen der NATO gemeinsam Krieg führen, können im Rahmen WTO durchaus
entgegengesetzte Positionen vertreten etc.
In Zusammenhang mit Globalisierung
ist oft von einem „entfesselten Kapitalismus“ die Rede, einem Kapitalismus, der
die Gesellschaft bedroht und der mit Hilfe des Staates irgendwie gebändigt
werden soll. Hältst Du das für eine zutreffende Analyse?
Heinrich: Wenn man den gegenwärtigen
Kapitalismus als „entfesselt“ charakterisiert, dann unterliegt dem die Vorstellung,
dass der Kapitalismus in früheren Zeiten mehr „gefesselt“, irgendwie sozialer
war. Man verallgemeinert damit ein (auch schon idealisiertes) Bild des Nachkriegskapitalismus.
Zwischen 1950 und 1975 konnte es so scheinen als sei der Kapitalismus (zumindest
in den Metropolen) weitgehend krisenfrei geworden. Hohe Wachstumsraten machten
hohe Profite anscheinend mit Reallohnsteigerungen und einem Ausbau des Sozialstaats
vereinbar. Dieses (insbesondere in Westdeutschland ausgeprägte) „Wirtschaftswunder“
war aber an spezifische historische Bedingungen geknüpft, die sich gerade
im Laufe dieses Wirtschaftswunders auflösten. Der „entfesselte“ Kapitalismus
der Gegenwart, der alle gesellschaftlichen Verhältnisse, sofern sie nicht
der Logik der Kapitalverwertung entsprechen, unterminiert, ist dagegen der
„normale“ Kapitalismus. Insofern sich dieser mit zunehmenden Krisen und Verelendungsprozessen
einhergehende Kapitalismus jetzt weltweit durchsetzt, sich von einer Reihe
von Schranken befreit und sich als globaler Konkurrenzkapitalismus etabliert,
erreichen wir historisch eigentlich erst den Zustand, den Marx vor Augen hatte,
als er im „Kapital“ die kapitalistische Produktionsweise „in ihrem idealen
Durchschnitt“ analysieren wollte und dabei festhielt, dass der „Weltmarkt
... überhaupt die Basis und die Lebensatmosphäre“ des Kapitalismus bildet.
Wird nun vom Staat verlangt, er soll diesen entfesselt-normalen Kapitalismus
irgendwie sozial zurechtstutzen, dann wird unterstellt, dass staatliche Politik
könne auch ganz anders sein, wenn es die Regierung nur wolle, wenn sie sich
dem Einfluß des Kapitals entziehen und endlich einmal das Gute und Richtige
tun würde. Zwar hängt Politik immer auch von gesellschaftlichen Kämpfen ab,
und ist daher ein stückweit offen; es gibt immer verschiedene Wege, die eingeschlagen
werden können. Allerdings darf man dabei nicht die strukturellen Zwänge aus
den Augen lassen, die viel wichtiger sind als die guten oder bösen Absichten
der Regierung. Ganz egal welche Partei die Regierung stellt, „die Wirtschaft“
muß funktionieren und das heißt unter kapitalistischen Verhältnissen: eine
ausreichende Verwertung muß möglich sein. Ohne ausreichende Profite keine
Akkumulation und ohne Akkumulation nicht genügend Steuereinnahmen, dafür aber
hohe Sozialausgaben aufgrund steigender Arbeitslosigkeit. Auch ohne Korruption,
Verfilzung etc. muß der Staat in erster Linie eine „ordentliche“ Kapitalverwertung
im Blick haben. Und Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, die Beseitigung
von Armut etc. sind nun mal nicht die Zwecke des Verwertungsprozesses, sondern
allenfalls seine zeitweiligen Abfallprodukte. Einen sozialen, ökologischen
oder was weiß ich was für einen netten Kapitalismus wird es nur insoweit geben,
wie dies von der Verwertung her möglich ist - und spätestens bei der nächsten
Krise steht das, was irgendwann einmal an sozialen Verbesserungen erreicht
wurde, wieder zur Disposition..
Das Stichwort „Krise“ bringt uns
zur nächsten Frage. Die zahlreichen Crashs an den Aktien- und Devisenmärkten in
den 90er Jahren wurden häufig als Vorboten eines endgültigen Zusammenbruchs des
Kapitalismus interpretiert. Was hältst du von den Prognosen dieser
Krisentheorien, ist der Kapitalismus wirklich schon an seine Grenzen gestoßen?
Heinrich: Im Gegenteil, der
Kapitalismus ist als globaler Konkurrenzkapitalismus jetzt erst richtig
entfaltet und Aktiencrashs und Krisen sind nicht nur normal, sondern für die
weitere Entwicklung des Kapitalismus auch notwendig: Fehlentwicklungen,
Blockaden der Akkumulation etc. können in einer kapitalistischen Ökonomie gar
nicht anders beseitigt werden. Dass bei diesen Crashs zahlreiche Existenzen
zerstört werden, dass sie Elend hervorbringen, dass auch eine Menge Unternehmen
zugrunde gehen, ist für den Kapitalismus als Ganzes, als System gewissermaßen
eine „Verjüngungskur“. Die Zusammenbruchstheorien, die in den 90er Jahren
wieder in Mode kamen, sind ja keineswegs neu. Sie gehören seit einem
Jahrhundert zur Grundausstattung des Arbeiterbewegungsmarxismus. Solche
Theorien sind nicht nur von der Brutalität der Krisen beeinflußt - nach dem
Motto: wenn so viel kaputt geht, dann kann der Kapitalismus doch wohl kaum
weiterexistieren - sie sind auch beherrscht von der Suche nach einer
„objektiven“ Grenze des Kapitalismus, einer Entwicklungsschranke, an der der
Kapitalismus einfach nicht mehr weiter kann. Eine solche Vorstellung halte ich
für eine Illusion, bisher hat der Kapitalismus noch jede dieser angeblich
objektiven Schranken überwunden. In die Zusammenbruchstheorien der 90er Jahre
floß allerdings noch eine andere Vorstellung ein, dass nämlich der
Wirtschaftswunderkapitalismus der 60er und frühen 70e Jahre den „normalen“
Kapitalismus repräsentieren würde und dass daher ein Kapitalismus mit
Massenarbeitslosigkeit und Verelendungstendenzen bereits sein eigenes Ende
einläuten würde. Der Wirtschaftswunderkapitalismus ist in der Tat vorbei,
„Vollbeschäftigung“ wird es auf absehbare Zeit wahrscheinlich nicht mehr geben.
Dies bedeutet aber nur das Ende einer bestimmten Phase des Kapitalismus, aber
nicht das Ende des Kapitalismus überhaupt.
Könnte die Zuspitzung der
Widersprüche und die Verschärfung der sozialen Gegensätze im globalen
Konkurrenzkapitalismus nicht auch neuen Raum für eine antikapitalistische
Bewegung schaffen?
Heinrich: Na ja, die Hoffnung
sollte man nicht aufgeben. Allerdings ist
zunächst einmal mit einer Zunahme von im weitesten Sinne rechten
Strömungen zu rechnen, die jede Menge faschistischer und rassistischer
Tendenzen einschließen. Auch bei vielem was auf den ersten Blick vielleicht
antikapitalistisch aussieht, wäre ich erstmal vorsichtig, ob es wirklich um
einen grundsätzlichen Antikapitalismus oder nur um einen „besseren“, womöglich
nationalen Kapitalismus geht.
Zur Zeit wird in der radikalen
Linken überlegt, ob es Sinn macht, ihre antikapitalistischen Inhalte in die
Antiglobalisierungsbewegung einzubringen. Könnte das eine Perspektive sein?
Heinrich: Bei der
Antiglobalisierungsbewegung muß man berücksichtigen, dass sie so heterogen ist,
dass es sich eigentlich gar nicht um eine, sondern um mehrere Bewegungen
handelt, die - zeitweise - einen gemeinsamen Gegner haben. Das Spektrum reicht
von (wenigen) antikapitalistischen Ansätzen, über reformistische Strömungen,
die einen „besseren“, regulierten Kapitalismus wollen, bis hin zu eher
konservativ Tendenzen, die vor allem die eigene „Nation“ und den von dieser
Nation angeblich garantierten sozialen Besitzstand retten wollen. Und
dazwischen gibt es noch jede Menge Überschneidungen. Ein bloßes dran hängen an
diese Bewegung mit der vagen Hoffnung irgendwann einmal etwas anderes einbringen
zu können, fände ich falsch. Notwendig wäre eine kritische Auseinandersetzung
mit den in der Antiglobalisierungsbewegung vorherrschenden Sichtweisen, was
überhaupt nicht ausschließt, dass man mit bestimmten Gruppen auch gemeinsame
Aktionen machen kann.
Welche Form von politischer
Intervention macht denn überhaupt noch Sinn? Du selbst hast in Göttingen ja den
klassischen Begriff von Politik als das mögliche Machbare kritisiert. Ist es am
besten, zuhause schlaue Bücher zu lesen?
Heinrich: Nun, ein Patentrezept
für die „richtige“ Form der Intervention habe ich auch nicht. Schlaue Bücher zu
lesen ist jedenfalls bestimmt nicht verkehrt, allerdings sollte diese Lektüre
dann auch wieder nach außen getragen werden. Gerade in den letzten Jahren
scheinen sich wieder zunehmend jüngere Leute zu engagieren, die nach einer
Weile nicht nur nach der richtigen Aktionsform suchen, sondern auch
Zusammenhänge besser begreifen wollen. Und da gibt es dann häufig nur wenige
Angebote auch nur das zu vermitteln, was es schon an Analysen gibt. Die
Beschäftigung mit „Theorie“ hat aber auch eine ganz grundsätzliche Bedeutung
für linke Politik. Wenn man von einer radikal-antikapitalistischen Position aus
agiert, dann sollte man sich nicht nur darüber klar sein, dass die Abschaffung
des Kapitalismus in den nächsten 20 oder 30 Jahren wohl kaum auf der
Tagesordnung stehen dürfte, man sollte sich auch stets der enormen
Integrationskraft des kapitalistischen Systems als Ganzes bewußt sein. Ein
funktionierendes parlamentarisches System besteht ja nicht darin, vorhandene
Kapitalinteressen einfach nur durchzusetzen. Diese Interessen müssen zunächst
einmal artikuliert, miteinander in Einklang gebracht werden und dabei spielt
auch eine Rolle, inwiefern es Widerstand gegen diese Interessen gibt, wobei
dieser Widerstand langfristig für das System als Ganzes durchaus produktiv sein
kann (wären in den 70er und 80er Jahren all die ursprünglich geplanten
Atomkraftwerke gebaut worden, dann wären viele Energieunternehmen heute
wahrscheinlich pleite). Es gibt immer wieder die Möglichkeit einige der eigenen
Forderungen irgendwie in den politischen Prozeß (der nicht nur in den
Parlamenten, sondern auch in der Öffentlichkeit, in den Medien stattfindet)
einzubringen und dann keimt die Hoffnung auf, dass wenn man sich noch mehr auf
das System einläßt - endlich die richtige Partei gründet und mit ihr Einfluß in
den Parlamenten gewinnt, oder eine Funktion in einem wichtigen Beratergremium
einnimmt, oder in wichtige Medien kommt, etc. - dass man dann noch mehr durchsetzen
könne. Und um besser in das System reinzukommen, macht man dann ganz langsam
ein Zugeständnis nach dem anderen. So landet man schließlich bei der Politik
als der „Kunst des Machbaren“. Für die Linke besteht immer die Gefahr
angesichts der Übermacht des Kapitalismus zu resignieren, sich nur auf die
berühmten kleinen Schritte zu beschränken und dabei ganz allmählich zum gut
funktionierenden Bestandteil der Maschine zu werden, die man doch ursprünglich
einmal abschaffen wollte. Und da ist es dann ganz hilfreich, insbesondere dann,
wenn keine radikale Massenbewegung existiert, sich immer wieder klar zu machen,
in was für einer Gesellschaft man eigentlich lebt, sich damit zu beschäftigen
wie Staat und Kapital funktionieren. Voraussetzung jeder Intervention ist es,
sich nicht in der einen oder anderen Weise einfangen zu lassen, sondern eine
radikale Kritik an staatlicher Herrschaft und kapitalistischer Ausbeutung
aufrecht zu erhalten - und zwar eine Kritik, die sich nicht auf Phrasen
beschränkt, sondern die auf der Höhe der Entwicklung von Staat und Kapital
formuliert wird, und das ist gar nicht so einfach.