Michael Heinrich
in: Jungle World 29, 7. Juli 2004
Moishe Postone hat ein gewichtiges Werk zu zentralen,
kategorialen Fragen der Marxschen Ökonomiekritik vorgelegt. Dabei handelt es
sich keineswegs um eine bloß akademische Übung. Fluchtpunkt auch noch seiner
abstraktesten Erörterungen ist die Frage, wie die Umbrüche des gegenwärtigen
Kapitalismus zu analysieren sind.
Postones Kritik richtet sich zunächst gegen den
„traditionellen“, in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Marxismus, für den
Ausbeutung, Klassenherrschaft und vor allem eine positiv verstandene
proletarische Arbeit, die, vom Kapital unterdrückt, sich im Sozialismus endlich
verwirklichen sollte, zentrale Bezugspunkte waren. Dieser Marxismus sei nicht
nur für die Analyse ungeeignet, auch dessen Sozialismuskonzeption, die
lediglich auf eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse zielte, nicht aber auf
eine grundlegende Umwälzung der Produktionsweise, biete keine wirklich
emanzipatorische Perspektive.
Dem setzt Postone eine „Neuinterpretation“ der Marxschen
Theorie entgegen, die abstrakte Arbeit als kapitalismusspezifische Form der
Vermittlung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ins Zentrum rückt. Auf dieser
Form der Vermittlung beruht, was Postone als „abstrakte Herrschaft“ bezeichnet:
ein struktureller Zwang, der nicht an einem bestimmten Ort lokalisiert ist oder
von einem bestimmten Machtzentrum ausgeübt wird, dem vielmehr alle Mitglieder
der bürgerlichen Gesellschaft unterworfen sind. Postone leugnet keineswegs
Ausbeutung und Klassenherrschaft, nur erhalten sie bei ihm einen anderen
Stellenwert als im traditionellen Marxismus.
Postones Ansatz wurzelt in der „neuen Marx-Diskussion“, wie
sie sich im Gefolge der Studentenbewegung und der Proteste gegen den
Vietnamkrieg seit den sechziger Jahren in vielen Ländern Westeuropas
entwickelte. In der westdeutschen Diskussion der siebziger Jahre, die Postone,
der von 1972 bis 1982 in Frankfurt am Main wohnte, aus der Nähe miterlebte, wurden
bereits die ökonomistischen Verkürzungen der Marxschen Theorie kritisiert.
Gegen ihre traditionelle Reduktion auf eine „politische Ökonomie der Arbeiterklasse“,
welche im Prinzip dieselben Fragen wie die politische Ökonomie stellt und lediglich
andere Antworten gibt, wurde betont, dass es sich bei der Marxschen
Ökonomiekritik um eine Fundamentalkritik der bürgerlichen Kategorien handele
und nicht bloß um eine Kritik der vermittels dieser Kategorien gewonnenen
Ergebnisse. Jenseits beschränkter fachökonomischer Fragestellungen geht es Marx
um den fetischisierten gesellschaftlichen Zusammenhang einer
warenproduzierenden, kapitalistischen Gesellschaft.
Nicht alles an Postones „Neuinterpretation“ ist daher ganz so
neu, wie er es immer wieder betont. Vor allem teilt Postones Buch auch ein
zentrales Defizit mit dem in den siebziger Jahren von unterschiedlichen Autoren
und Gruppen vorangetriebenen Projekt einer „Rekonstruktion der Kritik der
politischen Ökonomie“. Bei diesem Unternehmen wurden zwar die Fehlinterpretationen
der Vergangenheit und der fragmentarische Charakter der Marxschen „Kapital“-Manuskripte
betont, die die angestrebte „Rekonstruktion“ überhaupt nötig machten. In der
Marxschen Argumentation vorhandene Ambivalenzen und Inkonsistenzen wurden jedoch
ausgeblendet.
Diesem interpretatorischen Schema folgt Postone. Zwar
betonte er auf seiner jüngsten Vortragsreise, es gehe ihm nicht darum, „was
Marx wirklich sagte“, sondern um eine Interpretation, die man für die Analyse
benutzen könne. Aber auch dann muss man sich über den Zustand des Marxschen
Rohmaterials dieser Interpretation im Klaren sein. Marx vollzieht einerseits
einen radikalen Bruch mit dem theoretischen Feld der klassischen politischen
Ökonomie (d.h. ihren kategorialen Selbstverständlichkeiten), andererseits löst
er sich an vielen Stellen von diesem theoretischen Feld noch nicht. Etwa bei
der physiologischen Bestimmung abstrakter Arbeit, die ihrer Bestimmung als
einem gesellschaftlichen Geltungsverhältnis unmittelbar widerspricht, in seiner
Fixierung auf eine Geldware, in seinem Versuch einer quantitativen
Wert-Preis-Transformation.
Derartige Ambivalenzen zwischen Altem und Neuem sind für
jemanden, der eine wissenschaftliche Revolution vollzogen hat, keineswegs
ungewöhnlich. (Man vergleiche etwa die Rolle Galileis in der Geschichte der
Physik.) Indem Postone diese Ambivalenzen und Inkonsistenzen konsequent
ausblendet, ist er zuweilen zu recht unplausiblen Interpretationen gezwungen,
etwa die physiologische Bestimmung abstrakter Arbeit betreffend. Marx habe
diese Bestimmung gar nicht so gemeint, er nehme vielmehr eine bestimmte Erscheinungsform
auf, die er dann später kritisiere. Oder Postone setzt sich, wie bei der
Wert-Preis-Transformation, nur mit dem harmlosesten ersten Vertreter der
Kritik, Böhm-Bawerk, auseinander; die substanziellere Debatte, die erst später
einsetzt, wird dagegen völlig ignoriert.
Allerdings ist nicht nur Postones Interpretationsverfahren
problematisch, sondern auch ein Teil seiner Ergebnisse. Sowohl in seinem Wert-
als auch in seinem Kapitalbegriff bleibt alles, was mit „Zirkulation“ zu tun
hat, vor allem das Geld, weitgehend ausgespart. Zwar betont Postone zu Recht,
dass es sich bei abstrakter Arbeit um ein spezifisch gesellschaftliches Vermittlungsverhältnis
handele. Dass dieses Verhältnis aber eine gegenständliche Gestalt benötigt, die
es erst im Geld erhält, hat für Postones Wertbegriff keine besondere Bedeutung.
Wenn Geld aber tatsächlich, wie Marx in der „Kritik der politischen Ökonomie“
schreibt, die „unmittelbare Existenzform“ der abstrakten Arbeit ist, dann kann
Geldtheorie nicht, wie im traditionellen Marxismus und ebenfalls bei Postone,
nur ein Anhängsel der Werttheorie sein, dann ist sie vielmehr deren
konstitutiver Bestandteil.
Dann verläuft, wie Hans-Georg Backhaus in den siebziger
Jahren herausgestellt hat, die entscheidende Grenze nicht zwischen Arbeits- und
Nutzentheorien des Werts, sondern zwischen prämonetären Werttheorien, also
Theorien, die den Wertbegriff ohne jeden Bezug auf das Geld entwickeln wollen
(zu ihnen gehören sowohl die bürgerlichen Nutzentheorien als auch die
traditionell marxistische Arbeitswerttheorie), und der Marxschen monetären
Werttheorie als kategorialer Kritik prämonetärer Ansätze.
Diese Schlagseite von Postones Auffassung der Werttheorie
setzt sich in seinem Kapitalbegriff fort, der allein aus der Perspektive der
Produktion entwickelt wird, wie sie von Marx im ersten Band des „Kapital“
eingeführt wurde. Dahinter steht Postones richtige Kritik am traditionellen
Marxismus, der die Anarchie des Marktes durch Planung überwinden wollte, die
industriekapitalistischen Produktionsbedingungen aber kaum problematisierte.
Allerdings kann die Konzentration auf die Produktionsseite
ebenfalls zu einem schiefen Bild führen. Die Zirkulation des gesellschaftlichen
Gesamtkapitals, der Ausgleichsprozess zur Durchschnittsprofitrate und die
Vermittlung dieser Prozesse durch Kreditverhältnisse sind nicht einfach
irgendwie zusätzliche Prozesse, die man behandeln kann oder auch nicht. Kapital
ist als gesellschaftlich umfassendes Produktionsverhältnis ohne Kreditverhältnisse
überhaupt nicht möglich. Allein aus der Produktionssphäre lässt sich die Dynamik
des Kapitals daher nicht begreifen, dieser Dynamik vorausgesetzt ist vielmehr
immer schon die Einheit von (kapitalistischer) Produktion und Zirkulation. Dies
gilt insbesondere für das Verständnis derjenigen Prozesse, die in den letzten
Jahren unter dem Stichwort „Globalisierung“ verhandelt wurden und bei denen die
Rolle eines internationalisierten Finanzsystems im Zentrum steht.
Hinsichtlich der politischen Konsequenzen von Postones
Ansatz erweist sich vor allem die fehlende Staatskritik als problematisch.
Dabei geht es um eine kategoriale Leerstelle. Postone reißt zwar das historisch
wechselnde Verhältnis von Staat und Kapital an – auf die liberale Phase, in der
sich der Staat kaum in die Ökonomie einmischte, folgte die interventionistische,
die jetzt von einer neoliberalen abgelöst wurde –, doch wird diese historische
Betrachtung nicht durch eine kategoriale Analyse des Staates fundiert. Was
Postone zu Recht als Stärke der Marxschen Kapitalanalyse herausstellt, dass der
Marxsche Kapitalbegriff nicht in einer bestimmten historischen Figuration
aufgeht, sondern dass es sich beim Kapital um ein gesellschaftliches Verhältnis
handelt, das mit unterschiedlichen historischen Konfigurationen verbunden ist,
scheint er nicht in gleicher Weise auf den Staat zu beziehen.
Diese fehlende kategoriale Analyse des Staates ermöglicht es
dann, auf eine unreflektierte Art und Weise über Demokratie und demokratische
Selbstbestimmung zu sprechen. Postone, der überzeugend die ahistorische
Auffassung der ökonomischen Kategorien kritisierte, scheint dagegen eine
ahistorische Auffassung von Demokratie zu teilen. Statt Demokratie als spezifische
politische Vermittlungsform gerade jener von ihm selbst hervorgehobenen
„abstrakten Herrschaft“ zu reflektieren, erscheint Demokratie in Postones recht
vagen Äußerungen als eine überhistorische Organisationsform des Politischen,
die durch „ungleiche Machtverhältnisse“ behindert werde, die historisch bessere
oder schlechtere Bedingungen zu ihrer Verwirklichung vorfinde und die endgültig
erst im Sozialismus verwirklicht werde. Damit bleibt Postone, auch wenn er dies
vielleicht gar nicht beabsichtigte, einem Diskurs verhaftet, der den wirklichen
Verhältnissen (der real existierenden Demokratie) lediglich eine Idealisierung
dieser Verhältnisse (die wahre Demokratie) gegenüberstellt. Worauf es jedoch
ankäme, wäre eine Kritik der politischen Kategorien der bürgerlichen
Gesellschaft, welche der Kritik der ökonomischen Kategorien adäquat ist.
Erst damit wäre im Übrigen die kategoriale Ebene erreicht,
auf der in einem zureichenden Sinn von Klassen und Klassenkämpfen geredet
werden kann. Postones Kritik der traditionsmarxistischen Überhöhung des
Klassenkampfes teilt mit den kritisierten Positionen jedoch die Vorstellung,
dass über Klasse und Klassenkampf allein schon wegen der ökonomischen Struktur
gesprochen werden könne. Nicht der ökonomistisch verkürzte Klassenbegriff steht
somit bei Postone in Frage, sondern dessen Bewertung.