Michael
Heinrich
Monetäre Werttheorie. Geld und Krise bei Marx
in:
PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 123, 31.Jg.,
2001, Nr.2, S.151-176
1. Der traditionelle
Marxismus der Arbeiterbewegung
Jede
Diskussion des Stellenwerts, den die Marxsche Ökonomiekritik für eine Analyse
des gegenwärtigen Kapitalismus haben kann, stößt zunächst einmal auf eine Reihe
verfestigter Vorstellungen über „Marxismus“ und die „ökonomische Theorie von
Marx“, die nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch einen guten Teil
der sozialwissenschaftlichen Debatten beherrschen. Dabei verdanken sich diese
Vorstellungen weniger einer Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk als
vielmehr der Wirkungsgeschichte der Marxschen Ideen in der Arbeiterbewegung.
Bereits
mit den popularisierenden Spätschriften von Engels setzte in der
Sozialdemokratie des späten 19. Jahrhunderts ein Prozeß ein, in dessen Verlauf
sich das unabgeschlossene Unternehmen der Marxschen Kritik in eine
umfassende Weltanschauung verwandelte, die ein Konglomerat aus
bürgerlichem Fortschrittsdenken, simplifizierter Hegelscher Philosophie und
Versatzstücken Marxscher Begriffe darstellte. Diese Weltanschauung lieferte für
die Propaganda der Arbeiterparteien einfache Formeln und für die
bildungshungrige aber von der (bildungs)bürgerlichen Welt weitgehend
ausgeschlossene Arbeiterbewegung geistige Orientierung. Ihre Fortsetzung und
weitere Verflachung erfuhr diese Weltanschauung dann im „Marxismus-Leninismus“,
der in der Sowjetunion seit den 30er Jahren zur bloßen Legitimationsideologie
von Partei und Staat verkam.[1]
Dieser
weltanschauliche Marxismus der sozialdemokratischen und kommunistischen
Arbeiterbewegung wurde seit den 20er Jahren von verschiedenen Seiten in Frage
gestellt. Mit den Arbeiten von Korsch (1923) und Lukács (1923) sowie der vom
Frankfurter Institut für Sozialforschung ausgehenden Kritischen Theorie nahm
ein „westlicher Marxismus“ (Anderson 1978) Gestalt an, der eine der Ursachen
für die Krise der Arbeiterbewegung in den Dogmatisierungen des traditionellen
Marxismus erblickte. Allerdings konzentrierte sich die Kritik in erster Linie
auf dessen philosophische und geschichtstheoretische Grundlagen: eine auf
universale „Bewegungsgesetze“ reduzierte Dialektik sowie den weit verbreiteten
Geschichtsdeterminismus. Weitgehend unkritisch wurde dagegen die
ökonomietheoretische Seite des traditionellen Marxismus behandelt: Zwar wurde
in den 20er und 30er Jahren heftig über tatsächliche oder vermeintliche
Resultate der Marxschen Ökonomie debattiert (wie die „Verelendungs-“ oder die
„Zusammenbruchstheorie“), der theoretische Raum aber, in welchem der
traditionelle Marxismus die „ökonomische Lehre von Marx“ auffaßte, wurde auch
vom „westlichen Marxismus“ lange Zeit nicht hinterfragt. Und es ist gerade
dieser theoretische Raum, der auch heute noch die gängigen Vorstellungen von
einer „marxistischen Ökonomie“ weitgehend prägt.
Konstitutiv
für diesen theoretischen Raum ist die Verwandlung der Marxschen Kritik
der politischen Ökonomie in eine politische Ökonomie, die das von der
klassischen politischen Ökonomie abgesteckte Feld der Theoriebildung nicht
grundsätzlich verläßt. Marx gilt seit Engels und Kautsky als der große Ökonom
der Arbeiterbewegung, der die Arbeitswertlehre der Klassik übernahm, auf ihrer
Grundlage die Ausbeutung der Arbeitskraft aufgezeigt und entgegen den
Harmonieversprechungen der bürgerlichen Ökonomie das periodische Auftreten von
immer stärkeren Wirtschaftskrisen nachgewiesen hat. Marx erscheint hier als der
konsequenteste Vertreter der Klassik, ein grundsätzlicher kategorialer
Unterschied zu deren Analysen ist nicht mehr auszumachen.
Ein
weiteres Moment ist mit dem traditionellen Verständnis von marxistischer
Ökonomie in der Regel verbunden: Die Marxsche Kapitalismuskritik wird als
Kritik an „ungerechten“ Verhältnissen aufgefaßt. Die Arbeitswertlehre erscheint
als Legitimation des Anspruchs der Arbeiter und Arbeiterinnen auf das gesamte
Produkt, so dass die „Ausbeutung“, von der Marx spricht, zu einer Verletzung
von elementaren Gerechtigkeitsforderungen wird. In dieser Perspektive besteht
das größte Defizit des Kapitalismus in einer falschen Verteilung, die dann
entweder sozialstaatlich reformistisch oder revolutionär zu verändern ist.
Und
schließlich findet sich häufig ein Begriff von „bürgerlicher Ideologie“, der
diese als mehr oder weniger bewußte Verschleierung der wirklichen Verhältnisse
auffaßt. Die zentrale Aufgabe einer marxistischen Ideologiekritik besteht dann
in der Entlarvung: sie zeigt auf, wem diese oder jene Auffassung nützt.
Zuweilen wird Ideologiekritik auch darauf reduziert, eine Auffassung aus der
sozialen Position ihres Autors abzuleiten. Resultiert „bürgerliche Ideologie“
aus einem bestimmten Standpunkt oder Interesse, so wird dies umgekehrt auch für
den Marxismus in Anspruch genommen: er verdanke sein „richtiges“ Bewußtsein dem
„Standpunkt der Arbeiterklasse“ oder dem Interesse an einer Überwindung des
Kapitalismus.
Anhaltspunkte
für die skizzierten Auffassungen findet man zwar auch im Marxschen Kapital,
allerdings läßt sich fragen, ob ausgehend von den drei genannten Elementen der
traditionellen Auffassung nicht wesentliche Gehalte der Kritik der politischen
Ökonomie verfehlt werden. Grundsätzlich in Frage gestellt wurde dieses
traditionelle Verständnis einer „ökonomischen Theorie von Marx“ erst seit den
60er Jahren, als nicht zuletzt im Gefolge der studentischen Protestbewegungen
und beeinflußt von den philosophischen und methodologischen Ansätzen des
„westlichen Marxismus“ das Kapital in einer neuen Perspektive gelesen
wurde: Es wurde nicht nur nach den Resultaten der Marxschen Darstellung
gefragt, jetzt wurde verstärkt die methodische Struktur der Argumentation in
den Blick genommen wurde. Dabei zeigte sich recht schnell, dass zwischen der
traditionellen Auffassung, die im Kapital vor allem die Darstellung
einer Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus sah,[2] und dem
Marxschen Anspruch einer kategorialen Analyse der kapitalistischen
Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“ (MEW 25: 839) eine erhebliche
Differenz existierte. Dieses Ergebnis wurde in ganz unterschiedlichen
theoretischen Kontexten formuliert: in Frankreich speiste sich die von
Althusser (1965) und seinen Schülern geübte Kritik am „Historizismus“ vor allem
aus dem Einfluß des Strukturalismus, während die verschiedenen Versuche einer
Rekonstruktion der „Logik“ des Marxschen Kapital in der westdeutschen
Diskussion (Backhaus 1969, Reichelt 1970, PEM 1973, Bader et al. 1974) stark
von der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie beeinflußt waren.
Mit der
Untersuchung des kategorialen Aufbaus der Marxschen Argumentation geriet auch
bald der Marxsche Anspruch in den Blick nicht einfach eine andere
politische Ökonomie zu liefern (was in der traditionellen Auffassung ohne
weiteres unterstellt wird), sondern eine Kritik der politischen
Ökonomie: Gegenstand dieses emphatischen Begriffs von Kritik sind nicht nur
einzelne Aussagen oder einzelne theoretische Ansätze, sondern die kategorialen
Grundlagen, denen sich die Ökonomie als Wissenschaft verdankt. Nicht bloß
die Irrtümer einzelner Ökonomen, ihre spezifischen Aussagen über Wert und
Kapital sollen kritisiert werden, sondern die Art und Weise, in der Wert und
Kapital überhaupt als Gegenstände ökonomischer Wissenschaft formiert
werden.[3] Marx
selbst hebt diesen Punkt immer wieder heraus, wenn er sich grundsätzlich auf
die Theoriebildung der Klassik bezieht:
„Die politische
Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und
den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur
die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt“ (MEW 23: 95,
Herv. von mir).
Es sind
also nicht allein die Resultate der Klassik, die Marx kritisiert, sondern ihre
Fragestellungen bzw. das Fehlen bestimmter Fragen, was anzeigt, dass ihr
bestimmte Formen als derart natürlich gelten, dass sie überhaupt nicht mehr
hinterfragt werden müssen.
Eine
solche Gegenstandsformierung kann aber nur dann unabhängig von den jeweiligen
Fähigkeiten und Einsichten der einzelnen Ökonomen sein, wenn sie sich selbst
einem bestimmten objektiven Zusammenhang verdankt, der sie überhaupt plausibel
macht, ihr Evidenz verleiht. Es ist dieser Zusammenhang, den Marx als
„Fetischismus“ bezeichnet: die „verkehrten“ Kategorien erhalten ihre
Plausibilität aus der Anschauung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in
welchem die Menschen ihre gesellschaftlichen Beziehungen über Dinge vermitteln,
so dass ihnen ihre eignen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erscheinen.
Wenn Marx vom Fetischismus der Warenwelt spricht, so hat dies nichts mit der
verbreiteten Rede von der Undurchschaubarkeit der modernen Welt oder mit der
Sehnsucht nach einfachen Verhältnissen zu tun. Vielmehr geht es um die von der
spezifischen Form des gesellschaftlichen Verkehrs selbst hervorgerufenen
„objektiven Gedankenformen“ (MEW 23: 90), die sich als scheinbar natürliche
Kategorien zur Analyse dieses Verkehrs anbieten, so dass dann umgekehrt diese
spezifisch gesellschaftlichen Verhältnisse als unabänderliche „Naturform“ von
Gesellschaft erscheinen. Kritik der politischen Ökonomie impliziert damit stets
auch Erkenntniskritik: Kritik an Bewußtseinsformen innerhalb deren Erkenntnis
gewonnen wird.[4]
Die Analyse
des Fetischismus beschränkt sich allerdings nicht auf den berühmten Abschnitt
über den Fetischcharakter der Ware aus dem ersten Band des Kapital, der
häufig der ausschließliche Bezugspunkt entsprechender Debatten ist, sie zieht
sich durch alle drei Bände des Kapital hindurch. Fetischisiert sind
sämtliche bürgerlichen Produktionsverhältnisse, so dass Marx am Ende des
dritten Bandes des Kapital von einer „verzauberten, verkehrten, auf den
Kopf gestellten Welt“ (MEW 25: 838) sprechen kann, in der sich die „Agenten“
der bürgerlichen Produktionsweise (Arbeiter ebenso wie Kapitalisten) bewegen.
Damit wird
auch die oben angesprochene Auffassung von Ideologie hinfällig, die Ideologie
lediglich als von einem bestimmten Interesse ausgehendes falsches Bewußtsein auffaßt.
Der bekannte Satz aus der Deutschen Ideologie, dass die Gedanken der
Herrschenden die herrschenden Gedanken seien (MEW 3: 46), blendet den
entscheidenden Punkt gerade aus: die grundlegenden „Verkehrungen“ in der
Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft werden überhaupt nicht bewußt
produziert, ihnen unterliegen zunächst einmal alle ihre Mitglieder. Marx stellt
dies bei seiner Analyse der Lohnform besonders deutlich heraus: der Lohn als
„Preis der Arbeit“ (statt als Preis der Arbeitskraft) sei ein „imaginärer
Ausdruck“, aber einer der aus den Produktionsverhältnissen selbst entspringt
(MEW 23: 559); auf der Lohnform aber, „beruhn alle Rechtsvorstellungen des
Arbeiters wie des Kapitalisten“ (MEW 23: 562, Herv. von mir).[5]
Im Rahmen
dieses Kritikkonzeptes ist dann auch eine Kritik am Kapitalismus aufgrund
seiner „Ungerechtigkeit“ nicht mehr möglich. Vor allem die im Kapital
zumeist nur noch indirekt oder in Fußnoten geführte Auseinandersetzung mit
Proudhon macht deutlich, dass Marx Gerechtigkeitsvorstellungen keineswegs aus
dem von der bürgerlichen Gesellschaft produzierten Verkehrungszusammenhang
ausnimmt: Was als Prinzipien „ewiger Gerechtigkeit“ erscheint, erhält seine
Plausibilität nur unter spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl.
z.B. MEW 23: 99, Fn 38; 613, Fn 24 und vor allem MEW 25: 351f), einer
rationalen Begründung sind Gerechtigkeitsnormen daher gar nicht zugänglich.
Daher verzichtet Marx auch darauf, den Kapitalismus als „ungerecht“ zu
kritisieren: Die Pointe der Marxschen Analyse des Austauschs zwischen Kapital
und Arbeit besteht ja gerade darin aufzuzeigen, dass die Aneignung von Mehrwert
keineswegs die Verletzung der Gesetze des Äquivalententausches zur
Voraussetzung hat - was die moralische Kapitalismuskritik z. B. der Linksricardianer
immer schon unterstellt. Die verschiedenen Ansätze bei Marx doch noch eine
irgendwie geartete moralische Kapitalismuskritik aufzufinden (etwa bei Wildt
1986, 1997), begnügen sich in der Regel mit dem Versuch, einzelne
Argumentationsstränge als moralisch nachzuweisen, ohne sich jedoch mit der bei
Marx angelegten grundsätzlichen Kritik an der Möglichkeit der Begründung
moralischer Urteile überhaupt auseinanderzusetzen (vgl. zur Kritik an solchen
Versuchen u.a. Haug 1986, Heinrich 1999: 372ff).
Dass Marx
den Kapitalismus ablehnt ist unbestritten, nur begründet er diese Ablehnung
nicht mit Hinweis auf irgendwelche moralischen Grundsätze, denen doch alle
zustimmen müßten. Vielmehr will er mit seiner Analyse des Kapitalismus
aufzeigen, dass sich die als Verwertungsprozeß organisierte Produktion zwangsläufig
(also unabhängig vom Wollen des einzelnen Kapitalisten) auf Kosten der
Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, entwickelt, unabhängig davon
ob die Löhne hoch oder niedrig sind (vgl. etwa MEW 23: 449; 529f; 674f). Daraus
schöpft Marx die Hoffnung, dass diese den Kapitalismus eines Tages abschaffen
werden: nicht weil sie im Kapitalismus irgendeine normative Grundlage verletzt
sehen, sondern weil sie ein Interesse an einem guten Leben haben, das
sich unter der Herrschaft des Kapitals nicht realisieren läßt.
2. Wert
und Geld
In der
Lesart des traditionellen Marxismus wird die Marxsche Werttheorie im Grunde als
bloße Arbeitsmengentheorie aufgefaßt: das Entscheidende ist hier, dass die
Werte der Waren durch die bei ihrer Produktion verausgabten Arbeitsmengen
bestimmt seien. Ein grundsätzlicher kategorialer Unterschied zur
Arbeitswerttheorie der klassischen politischen Ökonomie kann dabei nicht
ausgemacht werden, die Marxsche Arbeitswertlehre erscheint lediglich als eine
Präzisierung der klassischen: so etwa wenn Marx festhält, dass nur die bei einem bestimmten Stand der Technik
„gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ wertbildend sei und insofern er
zwischen „konkreter“ (gebrauchswertschaffender) und „abstrakter“
(wertbildender) Arbeit unterscheidet. Mit der Bestimmung der Wertgröße durch
Arbeitszeit ist sowohl für einen Großteil der marxistischen Tradition wie auch
für die herrschende Volkswirtschaftslehre der theoretische Kern der „Marxschen
Arbeitswertlehre“ umschrieben.
Geld
spielt in dieser Auffassung de facto keine tragende Rolle. Die Marxsche
Geldtheorie wird im wesentlichen auf die Untersuchung der verschiedenen
Geldfunktionen reduziert. Die werttheoretische Bedeutung des Geldes, wie
sie Marx im Abschnitt über die Wertform und im Kapitel über den Austauschprozeß
untersucht, wird weitgehend ignoriert: vielen Autoren gilt die Wertformanalyse
lediglich als geraffte Nacherzählung der historischen Herausbildung des Geldes.
Geld selbst wird in dieser Sichtweise der Marxschen Werttheorie im Grunde auch
nicht anders behandelt als in Klassik und Neoklassik, nämlich als ein Mittel
zur Vereinfachung des Tausches. Für die Werttheorie selbst scheint Geld aber
nicht weiter von Bedeutung zu sein.[6]
Faßt man
die Marxsche Werttheorie in der skizzierten Weise als nicht-monetäre
Arbeitsmengentheorie des Werts auf, dann ist die von den meisten
nicht-marxistischen Ökonomen vertretene Ansicht, Marx sei der letzte große
Vertreter der klassischen politischen Ökonomie, keineswegs unplausibel. Viele
marxistische Autoren setzen dem entgegen, dass Marx im Unterschied zur Klassik
den bloß historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen
Produktionsweise erkannt habe; ist dies aber der zentrale Unterschied zwischen
Marx und der Klassik, dann besteht ihre Differenz lediglich in der
Interpretation der Ergebnisse der Theorie, aber gerade nicht in den
kategorialen Grundlagen der Theoriebildung.
Marx gilt
der herrschenden Volkswirtschaftslehre aber nicht nur deshalb als überholt,
weil er der längst überwundenen Klassik zugerechnet wird; der zentrale Einwand
gegen die Marxsche Arbeitswerttheorie lautet, sie sei am
„Transformationsproblem“ gescheitert: die von Marx im dritten Band des Kapital
dargestellte Umrechnung von reinen Arbeitswerten in „Produktionspreise“ (d.h.
Preise, die eine für alle Kapitale gleich große „Durchschnittsprofitrate“
ermöglichen), sei mit fundamentalen Fehlern behaftet und in der Tat scheint
jede Arbeitsmengentheorie des Werts hier vor erheblichen Problemen zu stehen.[7]
Die
skizzierte Auffassung der Werttheorie als Arbeitsmengentheorie reduziert die
Aufgabe der Werttheorie darauf, den Bestimmungsgrund der relativen Preise
anzugeben. Insofern stellt sie genau die selbe Frage wie Klassik und
Neoklassik. Würde sich die Marxsche Werttheorie tatsächlich auf eine solche
Arbeitsmengentheorie reduzieren, wäre sie in der Tat im selben theoretischen
Raum angesiedelt wie Klassik und Neoklassik; der Anspruch der Marxschen Kritik,
nicht nur die Resultate der bürgerlichen Ökonomie zu kritisieren, sondern die
kategorialen Grundlagen, auf denen diese Resultate gewonnen wurden, wäre dann
nicht einzulösen.
Nun finden
sich bei Marx selbst zwar eine ganze Reihe von Argumentationsansätzen, die im
Sinne einer Arbeitsmengentheorie des Werts verstanden werden können
(insbesondere seine Behandlung des Transformationsproblems im dritten Band des Kapital),[8]
allerdings besteht der zentrale Impetus der Marxschen Werttheorie gerade in der
Kritik der prämonetären Arbeitsmengentheorie der Klassik.[9] Dieser
Impetus wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Marx die
werttheoretischen Defizite der Klassik bestimmt. So billigt er Ricardo zwar zu,
dass er konsequenter als alle seine Vorgänger Wert durch Arbeit bestimmt habe,
doch zugleich wirft er ihm vor,
„den Charakter
dieser Arbeit untersucht Ricardo nicht. Er begreift daher nicht den
Zusammenhang dieser Arbeit mit dem Geld oder, daß sie sich als Geld
darstellen muß“ (MEW 26.2: 161, Herv. im Original).
Den
Zusammenhang „dieser Arbeit“ (nämlich der abstrakten, wertbildenden Arbeit) mit
dem Geld nicht verstanden zu haben, bzw. überhaupt nicht nach diesem
Zusammenhang zu fragen, kann man auch dem traditionellen Marxismus vorwerfen.
Worin
besteht nun das von Marx angesprochene Problem? Die einzelnen Warenproduzenten
verausgaben ihre Arbeit privat und in einer bestimmten konkreten Art und Weise.
Erst im Nachhinein, in der Gleichsetzung im Tausch verwandelt sich Privatarbeit
in gesellschaftliche Arbeit, wird konkrete Arbeit zu abstrakter, wertbildender
Arbeit. Die Frage, wie diese Gleichsetzung überhaupt möglich ist, spielt
aber weder in der bürgerlichen Ökonomie, noch im traditionellen Marxismus eine
zentrale Rolle, allenfalls werden ihre quantitativen Aspekte diskutiert. Für
den traditionellen Marxismus scheint die Reduktion der individuell verausgabten
Arbeitszeit auf „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ bereits für diese
gleiche Geltung auszureichen, obwohl damit erst eine Standardisierung innerhalb
einer einzelnen konkreten Produktionssphäre angesprochen ist, aber noch längst
nicht die gleiche Geltung verschiedener konkreter Arbeiten im Tausch.
Die
einzelnen Arbeiten beziehen sich im Tausch nicht unmittelbar aufeinander, aufeinander
bezogen werden die Waren. Gleiche Geltung erlangen die Waren als von ihrer
Gebrauchsgestalt unterschiedene „Werte“. Hier stellt sich wieder die selbe
Frage, wie können die unterschiedlichen Gebrauchswerte, die sich im Tausch
gegenüberstehen, als gleichartige Werte gelten? Die Antwort, die Marx im Rahmen
seiner Wertformanalyse entwickelt, lautet: die besonderen Waren in ihrer
unterschiedlichen Gebrauchswertgestalten, können sich nur als Werte aufeinander
beziehen, wenn es etwas Drittes gibt, das als unmittelbarer Ausdruck von
Wert gilt, und sich die besonderen Waren auf dieses Dritte als ihren
Wertausdruck beziehen können. Nur vermittels dieses Bezugs auf ein Drittes, das
unmittelbar als Wert gilt, können sich die besonderen Waren auch auf einander
als Werte beziehen. Durch den bloßen Tausch zweier Produkte wird noch kein
gesellschaftlich gültiges Wertverhältnis konstituiert. Dieses existiert erst
dann, wenn sich die beiden Produkte auf einen gesellschaftlich gültigen
Ausdruck von Wert beziehen können - auf ein „allgemeines Äquivalent“. Derjenige
Gegenstand, der die Rolle des „allgemeinen Äquivalents“ spielt - ist Geld.
Der
Unterschied zur Wert- und Geldtheorie von Klassik und Neoklassik (wie auch der
„Arbeitsmengentheorie“ des traditionellen Marxismus) ist also ein doppelter.
Zum einen läßt sich Wert gerade nicht als substanzialistische Eigenschaft an
der einzelnen Ware festmachen,[10] Wert
existiert nur in der Beziehung von Ware auf Ware und diese Beziehung ist in
ihrer Allgemeinheit nur möglich durch die Beziehung von Ware auf Geld. Zum
anderen ist aber auch Geld weit mehr als eine bloße Recheneinheit. Der
Formunterschied von Ware und Geld ist fundamental: Waren sind Gebrauchswerte,
die auch Wert besitzen. Das Ding, das als Geld fungiert, gilt hingegen
als unmittelbare Verkörperung von Wert, es ist in seiner Besonderheit
Wert. In der Erstauflage des Kapital hatte Marx dafür einen
anschaulichen Vergleich gewählt:
„Es ist als ob neben
und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppirt
die verschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien u.s.w. des
Thierreichs bilden, auch noch das Thier existirte, die individuelle
Incarnation des ganzen Thierreichs.“ (MEGA II.5: 37, Herv. im Original)
Müssen
sich die Waren, insofern sie als Wertgegenstände gelten sollen, auf Geld
beziehen, dann heißt dies für die Waren produzierende Arbeit: sie kann nur dann
wertbildende „abstrakte“ Arbeit sein, wenn sie sich, wie Marx gegen Ricardo
hervorhebt, „in Geld darstellt“. Geld ist für Marx daher die „unmittelbare
Existenzform“ der abstrakten Arbeit (MEW 13: 42), anders als in Geld läßt sich
abstrakte Arbeit gar nicht ausdrücken. Dies ist auch der Grund, warum die
unmittelbare Arbeitszeitrechnung der verschiedenen „Stundenzettler“, gegen die
Marx sich wendet, unmöglich ist.[11]
Geld ist
für Marx also weit mehr als nur das Rechen- und Zirkulationsmittel, als das es
von Klassik und Neoklassik aufgefaßt wird. Es ist das notwendige Medium der Vergesellschaftung
atomisierter Warenproduzenten: nur mittels der sachlichen Gestalt des Geldes
können sie sich auf einander beziehen. Diesen von Marx herausgestellten Zwang
der ökonomischen Verhältnisse sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, wird
von Klassik und Neoklassik in der Tradition der bürgerlichen Vertragstheorien
zum Resultat intentionalen und rationalen Handelns umgedeutet: die
Warenbesitzer tauschen ihre Waren in bestimmten Relationen, weil diese
Waren für sie bestimmte Arbeits- bzw. Nutzenmengen verkörpern, sie verwenden
Geld, weil es den Tausch erleichtert („die Transaktionskosten senkt“)
etc. Da Geld somit keine eigenständige Bedeutung hat, sondern lediglich als
eine technische Erleichterung des Tausches gilt, betrachten Klassik und Neoklassik
monetäre Größen daher auch nur als „Schleier“, der über der „Realsphäre“ von
Arbeitsmengen und Kapitalgütern liegt, und von dem auf einer grundsätzlichen
theoretischen Ebene abstrahiert werden kann.
Die
eigenständige Bedeutung des Geldes (seine „Nicht-Neutralität“ im Jargon der
modernen Ökonomie) zeigt sich für Marx nicht nur darin, dass nur durch
den Bezug auf Geld ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen den
vielen verschiedenen Privatarbeiten hergestellt werden kann, die Vermittlung
dieses Zusammenhangs durch Geld schließt auch die Möglichkeit ein, diesen
Zusammenhang zu zerstören. Im Unterschied zum unmittelbaren Produktentausch,
der sich in einem Akt erschöpft, zerfällt die „Metamorphose der Ware“ in die
beiden getrennten Akte W-G und G-W, die sich gegeneinander verselbständigen
können: Verkauf ohne nachfolgenden Kauf, um das Geld als selbständige
Wertgestalt festzuhalten, womit der Zusammenhang der gesellschaftlichen
Reproduktion zerrissen wird. Mit Geld ist daher die „Möglichkeit der Krise“
(MEW 23: 128) gegeben, in der (notwendigen) Existenz des Geldes sieht Marx die
Widerlegung des „Sayschen Theorems“ begründet, auf das die Klassik (wie auch
die Neoklassik) ihre Behauptung stützt, eine Marktwirtschaft sei im Prinzip
(sofern keine Störungen von außen kommen) krisenfrei: die postulierte
Krisenfreiheit verdankt sich der Fiktion einer nicht-monetären Ökonomie (vgl.
auch MEW 26.2: 501ff).
Nach Marx
war es erst wieder Keynes, der bei seinem Versuch eine „monetäre Theorie der
Produktion“ zu entwickeln, Geld eine ähnlich zentrale Rolle zuwies und
ebenfalls das Saysche Gesetz als eines der zentralen Bestandteile der von
Klassik und Neoklassik attackierte. Dabei argumentierte er allerdings ohne
werttheoretische Grundlage, sozusagen aus der Perspektive der „fertigen
Phänomene“, die sich für Marx erst als Resultat am Ende seiner Darstellung
ergeben. Nicht zuletzt deshalb war es dem Mainstream der Keynes-Interpreten
recht schnell möglich Keynes‘ grundsätzliche Kritik an der Neoklassik zu entschärfen
und im Rahmen der „neoklassischen Synthese“ sogar in das neoklassische
Paradigma zu inkorporieren (vgl. dazu den Beitrag von Hansjörg Herr in diesem
Heft).
Die
Marxsche Geldauffassung weist allerdings auch einen bedeutenden Defekt auf, da
Marx davon ausgeht, dass Geld grundsätzlich an eine Geldware
gebunden sein muss. Zwar sieht auch Marx, dass die Geldware in der Zirkulation
durch Wertzeichen ersetzt werden kann, doch faßt er diese Wertzeichen als bloße
Vertreter der Geldware auf. Spätestens seit dem Zusammenbruch des
Währungssystems von Bretton Woods in den frühen 70er Jahren kann man jedoch
nicht mehr davon sprechen, dass das kapitalistische Geldsystem in irgendeiner
Weise von einer Geldware abhängt. Wird nun eingewandt, dass Marx das Geldsystem
seiner Zeit (das auf einer Geldware beruhte) analysiert habe und sich dieses
System im Verlauf der weiteren Entwicklung eben von der Geldware löste, dann
reduziert man die Marxsche Analyse doch wieder auf die Untersuchung einer
bestimmte Phase des Kapitalismus, entgegen seinem eigenen Anspruch die
kapitalistische Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“ darzustellen.[12]
Allerdings
ist das Marxsche Beharren auf der Existenz einer Geldware keineswegs zwingend:
aus der Wertformanalyse folgt streng genommen nur dass die Warenwelt einen selbständigen
Wertausdruck benötigt, dass - wie das oben zitierte Tier-Beispiel deutlich
macht - die Gattung zugleich als Individuum existieren muß. Genausowenig wie
aber „das Tier“ als ein besonderes Individuum tatsächlich neben den konkreten
Tieren existieren kann, kann auch Wert als solcher unmittelbar existieren,
beide können nur durch ein besonderes Individuum bezeichnet werden. Ob
dieses Individuum jedoch selbst ein Mitglied der Gattung sein muß, die es
bezeichnet, oder ob etwas anderes als ein solches Zeichen dient, ist eine ganz
andere Frage, die sich auf der Ebene der einfachen Zirkulation überhaupt nicht
entscheiden läßt. Bei der Analyse des Kreditsystems im dritten Band des Kapital
drängen sich dann allerdings Argumente auf, die dafür sprechen, dass einem
entwickelten kapitalistischen System nur ein Zeichengeld adäquat sein kann.[13] Marx geht
diesen Argumenten aber nicht nach, da er von der Notwendigkeit der Anbindung
des Geldsystems an eine Geldware überzeugt ist. Entgegen Marx‘ eigener
Überzeugung läßt sich der Zusammenhang von Ware und Geld auf der von ihm
gelieferten Grundlage aber auch ohne Geldware entwickeln.[14]
Die
Bedeutung des Geldes beschränkt sich im Kapital nicht auf den im Rahmen der
Wertformanalyse entwickelten Zusammenhang von Wert und Geld sowie die
anschließende Darstellung der Geldfunktionen, sie durchzieht die Argumentation
in allen drei Bänden. Kapital als sich verwertender Wert wird von Marx über die
Formel G-W-G‘ eingeführt. Zentral für die Kapitalbewegung sind nicht wie in
Klassik und Neoklassik physische Kapitalgüter, sondern zunächst einmal
Geldvorschüsse. Da Marx dann jedoch zunächst den „Produktionsprozeß des
Kapitals“ untersucht und die vermittelnden Zirkulationsakte lediglich
unterstellt, konnte der Eindruck entstehen, dass er eine nicht-monetäre
Akkumulationstheorie entwickelt, wo es doch wieder nur auf die „Realsphäre“ der
Güter ankäme.[15]
Allerdings beschränkt sich die Analyse der Akkumulation nicht auf den ersten Band:
im zweiten und dritten Band spielt entsprechend den jeweiligen
Darstellungsebenen die monetäre Seite dann auch wieder eine entscheidende
Rolle.
So hält
Marx bei der Untersuchung des Gesamtreproduktionsprozesses im zweiten Band des Kapital
fest, dass der Mehrwert nur realisiert werden kann, wenn die Kapitalisten sich
die dafür nötige Geldmenge wechselseitig vorschießen. Es muß also ein „Schatz“
bei einem Teil der Kapitalisten vorhanden sein, um den Mehrwert des anderen
Teils zu realisieren. Ist dies erfolgt und der Schatz nun in der Hand anderer
Kapitalisten, so sind diese in der Lage den Mehrwert der ersten Kapitalisten zu
realisieren, der Schatz ist damit auch wieder in der ursprünglichen Hand. Dass
Marx an dieser Stelle mit der anachronistischen Vorstellung eines „Schatzes“
statt mit Kreditverhältnissen argumentiert, liegt an der Systematik seiner
Darstellung: der Kredit wird erst später (nach der Kategorie des
Durchschnittsprofits) entwickelt. Berücksichtigt man dies, dann wird deutlich,
dass Marx im Grunde genommen gezeigt hat, dass Kreditverhältnisse zur
kapitalistischen Produktion nicht als äußerliche Momente hinzukommen, sondern
dass der kapitalistische Reproduktionsprozeß ohne Kredit überhaupt nicht
möglich ist, woraus dann unmittelbar folgt, dass der Umfang des Kredits auch
den Umfang der Reproduktion, d.h. die Akkumulation beeinflußt.[16]
Genausowenig
wie auf der Ebene der einfachen Zirkulation Geld eine bloße Zutat zur Welt der
Waren war, ist es der Kredit auf der Ebene der kapitalistischen Zirkulation -
der monetäre Charakter der Werttheorie macht sich auch hier geltend. Die
zentrale Stellung des Kreditsystems wird im dritten Band des Kapital
deutlich.[17] Marx
behandelt das Kreditsystem hier geradezu als Steuerungszentrum kapitalistischer
Produktion (nicht im Sinne einer bewußten Steuerung, sondern einer Hierarchie
der Vermittlungsebenen), wenn er betont, der Ausgleich der Profitraten, in dem
sich der gesellschaftliche Charakter des Kapitals darstellt, „wird erst
vermittelt und vollauf verwirklicht durch volle Entwicklung des Kredit- und
Banksystems“ (MEW 25: 620; vgl. auch 451).
Insofern
steht die von Keynes herausgestellte „Hierarchie der Märkte“ (der Zins des
Kapitalmarkts restringiert die Investitionen, der Umfang der Investitionen
bestimmt Güter- und Arbeitsmarkt) auch nicht im Widerspruch zur Marxschen
Theorie.[18]
Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied in den Argumentationsebenen:
Keynes untersucht immer schon Wirkungszusammenhänge auf der Ebene des
„Gesamtprozeßes der kapitalistischen Produktion“ (so der Untertitel des dritten
Kapital-Bandes), während Marx zunächst die Kategorien (Profit,
Durchschnittsprofit, Zins etc.), die auf dieser Ebene relevant sind,
werttheoretisch begründet.[19]
Die
Marxsche Analyse des Kreditsystems macht aber noch etwas ganz anderes deutlich:
mit dem Kredit ist eine neue Stufe in der Verselbständigung des Werts erreicht.
In der einfachen Zirkulation stand Geld als selbständiger Ausdruck von Wert der
Welt der Waren gegenüber. In der allgemeinen Formel des Kapitals G - W - G‘
bezog sich der Wert bereits nur noch auf sich selbst: aus Wert sollte mehr Wert
werden. Möglich war dies aber nur durch einen die Verwertung vermittelnden
Produktions- und Zirkulationsprozeß, so dass die vollständige Formel lautet:
G - Ak, Pm .......
P ....... W‘ - G‘
(mit Ak
für Arbeitskraft, Pm für Produktionsmittel und P für Produktionsprozeß). Im
Kredit erscheint dieser Prozeß nur noch als G - G‘ hier scheint sich Geld (als
selbständiger Ausdruck von Wert) unmittelbar auf sich selbst zu beziehen, ohne
jede weitere Produktion und Zirkulation.[20]
Allerdings entwickelt das Kreditsystem seinen eigenen Produktions- und
Zirkulationsprozeß. Bereits als zinstragendes Kapital wurde Geld zu einer „Ware
sui generis“: es erhält einen spezifischen Gebrauchswert, nämlich als Kapital
fungieren und so in einem bestimmten Zeitraum einen Profit erzielen zu können;
und im Hinblick auf diese Eigenschaft erhält es einen spezifischen Preis, den
Zins, sowie eine spezifische Zirkulationsbewegung, einen auf einen bestimmten
Zeitpunkt terminierten Rückfluß. In einem entwickelten Kredit- und Bankensystem
werden diese Kreditverpflichtungen (also bloße Ansprüche auf künftige
Zins- und Tilgungszahlungen) nun ihrerseits zu verkäuflichen Waren, deren Preis
mit dem Verhältnis von Marktzins und vereinbartem Zins erheblichen Schwankungen
unterliegt. Ähnliches gilt für Aktien, die zunächst einmal nur einen Anspruch
auf einen bestimmten Anteil am Gewinn des jeweiligen Unternehmens darstellen.
Auch dieser Anspruch kann verkauft werden, wobei sein Preis von der
Gewinnerwartung und dem Zinsniveau bestimmt ist. Hier setzt nun ein
„Produktionsprozeß“ ein (der in der historischen Entwicklung immer neue
„Finanzinnovationen“ hervorbringt), in dem nicht nur solche Ansprüche (auf
künftige Zinsen oder Profite) verkauft werden, sondern auch Ansprüche auf
Ansprüche (Optionen etc.) entwickelt werden, die ihrerseits in ganz
unterschiedlichen Weisen verkauft und verliehen werden können (so dass sich das
Kreditsystem auch noch ganz eigene Zirkulationsprozesse schafft). Diese
spezifischen „Waren“, die nichts anderes als Ansprüche auf künftige
Zahlungen darstellen, bilden die Grundlage des vom industriellen Kapital zu
unterscheidenden „fiktiven Kapitals“, mit dem Marx diese Verhältnisse
begrifflich zu erfassen sucht.[21]
„Spekulation“, d.h. das Spiel mit Erwartungen, ist hier kein Abweg, keine
Degeneration, sondern der normale, ja der überhaupt einzig mögliche Umgang mit
fiktivem Kapital. Ebenso normal sind auch die Hausse und der nachfolgende
Crash.
3. Gleichgewicht
und Krise
Die
meisten modernen ökonomischen Theorien egal ob sie neoklassischer oder
keynesianischer Provenienz sind, gehen von Gleichgewichtsmodellen aus: im
Gleichgewicht (so die übliche Definition) werden die Pläne aller Akteure
erfüllt, niemand hat daher eine Veranlassung sein Verhalten zu ändern. Ohne
Störung „von außen“ sollte das gleichgewichtige System stabil sein. Zwar sieht
auch die moderne Ökonomie, dass kapitalistische Systeme alles andere als
gleichgewichtig sind. Gleichgewichtsmodelle sollen jedoch als Referenzgröße für
das Verständnis der wirklichen Entwicklung dienen. In der Regel kommt die
Theoriebildung dann aber gar nicht bis zur Untersuchung von dynamischen
Prozessen, sondern bleibt allenfalls bei komparativer Statik stehen: es werden
lediglich zwei verschiedene Gleichgewichtszustände miteinander verglichen, über
den Weg von einem Gleichgewichtszustand zum anderen kann gleichwohl nichts
ausgesagt werden, da dieser über ungleichgewichtige Konstellationen verläuft,
die sich der Theoriebildung entziehen.[22] Auch die
gängigen „Wachstumstheorien“ sind nicht wirklich dynamisch, unterstellen sie
doch ein „gleichgewichtiges“ Wachstum, bei dem die zukünftige Entwicklung
bereits feststeht, sofern sie nicht „von außen“ gestört wird.
Theoretisch
relevante Versuche Kategorien zur Untersuchung von dynamischen Prozessen
zu entwickeln, wurden von Schumpeter und Keynes unternommen. Allerdings blieb
Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung für die ökonomische
Theoriebildung weitgehend irrelevant (auch wenn die Rede vom innovativen
„Schumpeterschen Unternehmer“ inzwischen weit verbreitet ist), und das
Keynessche Konzept einer vom bloßen Risiko (dem man mit der
Wahrscheinlichkeitstheorie beikommen kann) unterschiedenen „Unsicherheit“ (die
sich einer derartigen Berechnung entzieht) wurde in den dominierenden
Keynes-Interpretationen unterschlagen, es spielte erst wieder in einigen
„postkeynesianischen“ Ansätzen eine Rolle (vgl. Herr in diesem Heft).
Bei Marx
ist die Dynamik bereits in den Kapitalbegriff eingelassen: Kapital als
sich verwertender Wert kennt kein immanentes Maß, Kapitalverwertung ist ein
ebenso maßloser und wie endloser Prozeß (MEW 23: 166f), der
sowohl auf eine beständige Erhöhung des Grades der Verwertung (Steigerung der
Mehrwert- bzw. Profitrate) als auch auf die Größe des zu verwertenden Kapitals
abzielt. Auf dieser Grundlage bestimmt Marx dann verschiedene, der
kapitalistischen Produktionsweise immanente Entwicklungstendenzen, die
allerdings nicht ruhig und gleichmäßig, sondern krisenhaft verlaufen.
Inwieweit
ihm dies in konsistenter Weise gelingt, wird noch zu diskutieren sein, hier
kommt es zunächst einmal auf den inhärent dynamischen Charakter der Theorie an,
für die Gleichgewichtsbetrachtungen, wenn überhaupt, eine nur untergeordnete
Rolle spielen.[23] An diesem
Charakter ändert auch die unter Berücksichtigung des zinstragenden Kapitals
eingeführte Trennung des Profits in Zins und Unternehmergewinn nichts. In
modernen ökonomischen Theorien wird diese Trennung gewissermaßen zur Entdynamisierung
benutzt. Es wird nicht nur davon ausgegangen, dass Unternehmer als
Kapitalprofit mindestens den Zins erzielen müssen, es wird weiter unterstellt,
dass der Profit „im Gleichgewicht“ auch nicht höher ist als der Zins. Wird
nämlich ein über dem Zins liegender Unternehmergewinn realisiert (der über den
normalen „Unternehmerlohn“ sowie eine Risikoprämie hinausgeht), so wird dieser
Gewinn als Ungleichgewichtsphänomen aufgefaßt: so lange der Unternehmergewinn
existiert, haben die Unternehmer eine Veranlassung, ihre Produktion über
weitere Kredite auszudehnen bis über sinkende Preise oder gestiegene Kosten der
Gewinn schließlich verschwunden ist. „Im Gleichgewicht“ sind dann Profit und
Zins gleich. Damit erhält die Kapitalverwertung doch wieder ein Maß, nämlich
den Zins (der je nach Theorie Ausdruck der Zeitpräferenz oder der
Liquiditätspräferenz der Vermögensbesitzer ist), so dass die kapitalistische
Produktion zu einem Gleichgewicht finden kann.
Die
grundlegende vom Kapital ausgehende Dynamik, faßt Marx als „Produktion
relativen Mehrwerts“: durch Steigerung der Produktivkraft wird der Wert der
einzelnen Produkte und als Konsequenz der Wert der Arbeitskraft gesenkt. Damit
steigt - auch bei gleichbleibender Länge des Arbeitstages - die Mehrwertrate und
die Mehrwertmasse pro Arbeitskraft. Die wichtigste Methode zur Produktion des
relativen Mehrwerts ist der Einsatz von Maschinerie. Mit ihrer Hilfe kann
dieselbe Produktenmenge mit einer geringeren Anzahl von Arbeitskräften
produziert werden. Der Einsatz von immer mehr und immer teurerer Maschinerie
hat für das Kapital eine doppelte Konsequenz: einerseits steigt die Mehrwertrate
m/v, andererseits ist zur Produktion derselben Produktenmenge jetzt mehr
konstantes und weniger variables Kapital nötig, d.h. die Wertzusammensetzung
des Kapitals (das Verhältnis c/v) steigt ebenfalls.
Mit diesen
bereits im ersten Band des Kapital abgeleiteten Zusammenhängen versucht
Marx im dritten Band sein umstrittenes „Gesetz vom tendenziellen Fall der
Profitrate“ zu begründen. Häufig wird dieses „Gesetz“ als unverzichtbare
Grundlage der Marxschen Krisentheorie aufgefaßt, was die Vehemenz erklärt, mit
der über dessen Gültigkeit gestritten wurde. Im folgenden will ich einerseits
zeigen, dass die Kritik an diesem Gesetz berechtigt ist, andererseits soll aber
auch deutlich werden, dass die Marxsche Krisentheorie in ihrem Kerngehalt von
diesem Gesetz nicht abhängt.
Mit dem
„Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ zielte Marx weder auf eine
Verallgemeinerung empirischer Befunde, noch auf eine bloße
Plausibilitätsüberlegung, vielmehr beanspruchte er dieses Gesetz „aus dem Wesen
der kapitalistischen Produktionsweise als eine selbstverständliche
Notwendigkeit bewiesen“ zu haben (MEW 25: 223; vgl. auch 231).[24] Damit
sind für seine Begründung aber auch entsprechend hohe Maßstäbe gesetzt.[25]
Marx
entwickelt seine Argumentation in zwei Schritten. Zunächst stellt er das
„Gesetz als solches“ dar (13. Kapitel, 3. Band), danach diskutiert er
„entgegenwirkende Ursachen“ (14. Kapitel, 3. Band), die den Profitratenfall
abschwächen und zuweilen auch zu einem Anstieg der Profitrate führen, die aber
nicht verhindern können, dass sich das Gesetz langfristig durchsetzt. Die
folgende Kritik richtet sich vor allem auf den ersten Teil, es soll gezeigt werden,
dass sich bereits „das Gesetz als solches“ nicht halten läßt.
Marx
betrachtet zunächst den Fall einer steigenden Wertzusammensetzung des Kapitals
bei gleichbleibender Mehrwertrate. Diese Konstellation führt in der Tat mit
Notwendigkeit zu einem Fall der Profitrate (MEW 25: 221f).[26]
Allerdings behauptet Marx gleich anschließend, dass dieser Fall der Profitrate auch
bei steigender Mehrwertrate eintreten würde (MEW 25: 223).[27] Eine
Begründung folgt jedoch nicht, was höchst problematisch ist: die Steigerung der
Wertzusammensetzung wirkt auf eine Senkung der Profitrate hin, die Steigerung
der Mehrwertrate auf eine Erhöhung. Die Bewegung der Profitrate hängt demnach
davon ab, welcher Effekt stärker ist. Wird behauptet, dass die Profitrate
fällt, dann genügt es nicht zu zeigen, dass die Wertzusammensetzung steigt
(oder dass die einzelne Arbeitskraft als Folge der Produktivkrafterhöhung immer
mehr Arbeitsmittel in Bewegung setzt), es muß gezeigt werden, dass die
Wertzusammensetzung c/v auf Dauer schneller steigt, als die Mehrwertrate
m/v.[28]
Eine
Produktivkraftsteigerung, die eine bestimmte Steigerung der Mehrwertrate zur
Folge hat, kann in einem Fall durch viel, in einem anderen Fall durch wenig
zusätzliches konstantes Kapital erreicht worden sein. Eine allgemeine Aussage
ist nicht möglich. Wie dann aber eine allgemeine („aus dem Wesen der
kapitalistischen Produktionsweise“ und nicht aus besonderen Umständen
entspringende) Begründung dafür aussehen soll, dass die Wertzusammensetzung
nicht nur steigt, sondern auf Dauer notwendigerweise schneller
wächst als die Mehrwertrate, ist nicht zu sehen.
Bei Marx
findet sich allerdings ein anderes Argument, das er anscheinend für ausreichend
hält, um den Profitratenfall zu begründen. Der Kern dieses Argument wird auch schon
im ersten Band entwickelt (MEW 23: 322f), im dritten Band findet es sich am
deutlichsten im 15. Kapitel (MEW 25: 257f).[29] Die
Mehrwertmasse, die von einer bestimmten Zahl von Arbeitskräften hervorgebracht
wird, ist gleich dem Produkt aus dieser Zahl und dem von der einzelnen
Arbeitskraft gelieferten Mehrwert. Nimmt die Zahl der Arbeitskräfte ab, dann
kann dies zunächst durch eine Erhöhung der Mehrwertrate (also der Steigerung
der von der einzelnen Arbeitskraft gelieferten Mehrwertmasse) kompensiert werden.
Allerdings findet diese Kompensation irgendwann eine Grenze: Leisten 24
Arbeiter jeweils 2 Stunden Mehrarbeit pro Tag, so ergibt dies 48 Stunden
Mehrarbeit. Werden statt der 24 Arbeiter nur noch 2 beschäftigt, dann können
diese beiden niemals 48 Stunden Mehrarbeit liefern, ganz egal wie stark die
Mehrwertrate steigt. Marx folgert daraus, dass die Steigerung der Mehrwertrate
„den Fall der Profitrate wohl hemmen, aber nicht aufheben“ könne (MEW 25: 258).
Damit das
angegebene Beispiel aber einen Profitratenfall belegt, muß das Kapital, das die
2 Arbeiter beschäftigt, genauso groß sein, wie das Kapital, das früher die 24
Arbeiter beschäftigte, denn erst dann folgt aus der Abnahme der Mehrwertmasse
eine Abnahme der Profitrate. Hätte auch das Kapital abgenommen, müßte geklärt
werden, was stärker abgenommen hat, das Kapital oder die Mehrwertmasse. Die
Annahme, dass das Kapital gleich geblieben sei, hält Marx offensichtlich für
unproblematisch, was aber nicht zutrifft. Das vorgeschossene Gesamtkapital
setzt sich aus konstantem Kapital c und variablem Kapital v zusammen, v ergibt
sich als Produkt aus der Zahl der Arbeitskräfte mit dem Wert der Arbeitskraft.
Schrumpft die Zahl der Arbeiter von 24 auf 2, so verringert sich bei
gleichbleibendem Wert der Arbeitskraft das variable Kapital bereits auf ein
Zwölftel des alten Werts. Vom Wert der Arbeitskraft müssen wir außerdem
annehmen, dass er stark abgenommen hat, soll doch inzwischen die Produktivkraft
der Arbeit gestiegen sein (und zwar erheblich, da ja auch die Zahl der
benötigten Arbeitskräfte erheblich gesunken ist). Das neue variable Kapital
wird also in jedem Fall weniger als ein Zwölftel des alten variablen Kapitals
ausmachen. Damit das Gesamtkapital gleich bleibt, muß das konstante Kapital
nicht nur überhaupt gewachsen sein, es muß so stark gewachsen sein, dass es das
eingesparte variable Kapital (also mehr als 11/12 des ursprünglichen v)
ersetzen kann - und hier liegt das Problem. Es reicht nicht aus, nur das
Wachstum des konstanten Kapitals zu begründen,[30] es müßte
gezeigt werden, dass der Wert des konstanten Kapitals in einer bestimmten
Proportion angewachsen ist.
Auf
ähnlich problematischen Unterstellungen beruhen auch andere scheinbar
schlagende Beispiele, die in der Diskussion über das Marxsche „Gesetz“ herumgeistern.
Die Situation ist immer wieder ähnlich: von zwei Größen kann man zwar die
Bewegungsrichtung plausibel machen, um den Profitratenfall nachzuweisen,
müßte man aber eine Aussage über das quantitative Verhältnis dieser
Bewegungen machen können (ob die Wertzusammensetzung schneller steigt
als die Mehrwertrate, ob das konstante Kapital stärker zunimmt als das
variable Kapital abnimmt etc.) und dies ist auf der von Marx angestrebten
allgemeinen Ebene der Argumentation nicht möglich.[31] Das heißt
natürlich nicht, dass die Profitrate nicht auch fallen könnte, nur läßt sich
ein langfristig gültiges Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
nicht begründen.
Aus der
Perspektive einer Arbeitsmengentheorie des Werts, die glaubt, Wert rein von der
Produktion her bestimmen zu können, mag dieses Gesetz ein herber Verlust sein.
Die für eine monetäre Werttheorie interessanten Ansätze zur Krisentheorie
finden sich aber gerade in den Überlegungen von Marx, die nicht von diesem
„Gesetz“ abhängig sind. Eine einheitliche Krisentheorie hat Marx nicht
entwickelt. Seine krisentheoretischen Überlegungen sind nicht nur ein Torso
geblieben, es finden sich ganz verschiedene Ansätze zur Begründung von
Krisentendenzen.[32] Die
allgemeinste und zugleich den Anforderungen einer monetären Werttheorie (die
immer schon Produktion und Zirkulation umfaßt) am ehesten entsprechende
Begründung einer der kapitalistischen Produktionsweise immanenten Krisentendenz
skizziert Marx sehr gedrängt zu Beginn des 15. Kapitels im 3. Band des Kapital.
Dort hält er fest, dass die Bedingungen der „Exploitation“ und der
„Realisation“ des Mehrwerts nicht nur zeitlich und räumlich auseinander fallen,
vor allem unterliegen sie unterschiedlichen Determinanten:
„Die
einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die andren
durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die
Konsumtionskraft der Gesellschaft. Die letztre ist aber bestimmt weder durch
die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern
durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer
Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der
Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder engen Grenzen
veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den
Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach
Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. Dies ist Gesetz für die
kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den
Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von
vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die
Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen. (...) Es ist auf
dieser widerspruchsvollen Basis, durchaus kein Widerspruch, daß Übermaß von
Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung“ (MEW 25: 254f)
Ausbeutung
und Produktion des Mehrwerts kennt nicht nur keine innere Grenze, die
Konkurrenz zwingt den einzelnen Kapitalisten die beständige Steigerung der
Produktivkraft auf, die häufig nur durch eine Ausdehnung der Produktion zu
erreichen ist. Dieser
Tendenz zur beständigen Ausdehnung der Produktion und der
Produktionsmöglichkeiten stellt Marx die kapitalistisch begrenzte
„Konsumtionskraft der Gesellschaft“ gegenüber, die nur eine begrenzte
Realisation des Mehrwerts erlaubt. Allerdings formuliert er hier keine
schlichte Unterkonsumtionstheorie[33], er zerlegt vielmehr diese begrenzte
Konsumtionskraft in ihre zwei Hauptbestandteile: nämlich in die durch den Lohn
begrenzte Konsumtion der „Masse der Gesellschaft“ und die „durch den
Akkumulationstrieb“ begrenzte Konsumtion des Kapitals. Klassische
Unterkonsumtionstheorien stellen in ihrer Krisenbegründung auf zu geringe Löhne
und eine daraus resultierende „Nachfragelücke“ ab. Daß die Löhne geringer sind
als der Wert der produzierten Produkte, ist aber Voraussetzung der Existenz von
Mehrwert und Profit; die von den Unterkonsumtionstheorien festgestellte
„Nachfragelücke“ existiert immer. Ob sie geschlossen wird, hängt von der -
durch den „Akkumulationstrieb“ begrenzten - Investitionsnachfrage der
Kapitalisten ab.[34] Worin diese Grenzen des Akkumulationstriebes
bestehen, führt Marx hier nicht weiter aus, allerdings lassen sich die
Argumente unschwer zusammentragen. Vor allem zwei Sachverhalte sind relevant.
Zum einen ist es der über die Konkurrenz
vermittelte Zwang zur Produktivkraftentwicklung, die sich aber ungleichmäßig
und stoßweise durchsetzt: sie kann insbesondere zur beschleunigten Erneuerung
und Ausdehnung des fixen Kapitals führen, so dass die erwähnte Nachfragelücke
eventuell nicht nur geschlossen wird, sondern eine Überschußnachfrage entsteht,
die weitere Investitionsschübe in Gang gesetzt. Wurde dagegen das fixe Kapital
gerade erneuert, so sinkt die Nachfrage nach Fixkapital ab, so dass in
verschiedenen Bereichen Überkapazitäten vorhanden sind, welche die
Kapitalverwertung belasten (kurz angedeutet werden diese Zusammenhänge in MEW
24: 185f).
Der zweite Punkt bezieht sich auf das Verhältnis
von erwartetem Profit und Zins. Bei der Analyse des Kredits wird deutlich, dass
der einzelne Kapitalist immer die Wahl hat, ob er seine vergangenen Profite
(wie auch die zurückfließenden Wertbestandteile des fixen Kapitals) als
industrielles Kapital oder aber als fiktives Kapital akkumuliert. Bei niedrigen
Zinsen und der Erwartung hoher künftiger Profite wird die Akkumulation in
industrielles Kapital außerdem noch durch die Inanspruchnahme von Krediten
gesteigert werden, so dass die erwähnte „Nachfragelücke“ nicht nur geschlossen
wird, sondern eine Überschußnachfrage entstehen kann. Umgekehrt führen hohe
Zinsen und niedrige Profiterwartungen zu verstärkter Akkumulation in fiktives
Kapital, die dann auch noch weitere Spekulation anheizt, während im Bereich der
industriellen Produktion die „Nachfragelücke“ real wird und sich aufgrund
weiterhin schlechter Profiterwartungen noch verstärken kann. Was auf der Ebene
der einfachen Zirkulation als allgemeine Möglichkeit der Krise erschien,
die Unterbrechung von W-G-W um das Geld festzuhalten, nimmt bei Betrachtung des
kapitalistischen Gesamtprozeßes, der nicht allein durch Geld, sondern durch das
Kreditsystem vermittelt ist, konkrete Gestalt an: Kapitalistisch produzierte
Ware (Warenkapital) wird verkauft, nicht um mit dem erhaltenen Geldkapital
erneut die Elemente des produktiven Kapitals, Produktionsmittel und
Arbeitskräfte, zu kaufen, sondern um es in eine der Formen des fiktiven
Kapitals zu investieren. Auf der Seite des industriellen Kapitals verbleiben
damit unverkaufte Waren und Überkapazitäten, auf der Seite des fiktiven
Kapitals kann sich eine spekulative Hausse entwickeln mit nachfolgendem Crash.
Das spezifisch kapitalistische Verhältnis von
Produktion und Zirkulation, von Profit und Zins, industriellem Kapital und
fiktivem Kapital bringt widersprüchliche Tendenzen hervor, für die keine
einfachen und automatischen Ausgleichsprozesse existieren. Keynes stellte in diesem
Zusammenhang die Bedeutung von unkalkulierbarer, nicht in ein berechenbares
Risiko auflösbarer Unsicherheit heraus: Der Zins sei nicht einfach
Resultat des Wechselspiels von Sparen und Investieren, das automatisch zu einem
Gleichgewicht führe, wie Klassik und Neoklassik unterstellen, sondern Ausdruck
der Liquiditätspräferenz von Akteuren, die unter Unsicherheit handeln: mit der
Verfügung über Geld wappnen sie sich gegen Unsicherheit (Vorsichtskasse) oder
sie halten Geld aus spekulativen Gründen, versuchen also Vorteile aus der
Unsicherheit zu erlangen (Spekulationskasse).
Das von Keynes geltend gemachte Argument der
Unsicherheit ist zwar völlig richtig, doch bleibt es im Dunkeln, woher diese
Unsicherheit stammt. Seine auf die Zukunft gemünzte Bemerkung „we simply do not
know“ ist für alle historischen Zeiten richtig, doch unter kapitalistischen
Verhältnissen hat sie eine ganz andere Relevanz als in jeder anderen
Produktionsweise. Es ist nicht mehr wie in früheren Zeiten vor allem das Wetter
oder die Laune der Natur, welche die künftige Reproduktion unsicher macht, es
ist gerade die von Marx herausgestellte spezifische Dynamik der
kapitalistischen Produktionsweise selbst, welche die Unsicherheit hervorbringt:
die Logik der Kapitalverwertung, die Produktion relativen Mehrwerts führt zur
beständigen Steigerung der Produktivkräfte, zu immer neuen Umwälzungen der technischen
und sozialen Bedingungen von Produktion und Reproduktion, zur Verschiebung von
Nachfrageströmen, zum Verschwinden alter und zur Entstehung neuer Branchen, zur
Entwertung vorhandener Kapitalien und zur Entstehung neuer Kapitalien, deren
tatsächliche Verwertung aber noch lange nicht klar ist. Bevor diese
Entwicklungen an irgendeinem „Gleichgewichtspunkt“ zur Ruhe gekommen sind,
finden bereits wieder neue Umwälzungen statt, welche die gesamte Szenerie
verändern.
Da für die in diesem dynamischen Prozeß
aufgebauten Widersprüche und Ungleichgewichte keine automatischen
Anpassungsprozesse existieren, können sie nur momentan in einer Krise aufgelöst
werden. Die gewaltsame Herstellung der Einheit von Momenten, die zwar zusammen
gehören, aber gegen einander verselbständigte Entwicklungen durchlaufen (wie
oben für das Verhältnis von Produktion und Konsumtion skizziert) hält Marx
durchgehend als die allgemeinste Bestimmung der Krise fest.[35] Dieser Prozeß ist nur unter großen materiellen
und sozialen Kosten möglich: Kapitalien, sowohl im industriellen Bereich wie an
den Finanzmärkten angelegte, werden vernichtet, Arbeitskräfte werden arbeitslos
oder müssen Einkommensverluste hinnehmen.
Die zerstörerische Seite der Krise machte die
Vorstellung plausibel, die Marxsche Krisentheorie laufe auf eine
„Zusammenbruchstheorie“ hinaus, eine Vorstellung, die in der marxistischen
Arbeiterbewegung zwar nicht unumstritten, aber quer durch alle Fraktionen recht
populär war: so politisch unterschiedlich orientierte Persönlichkeiten wie
Heinrich Cunow, Rosa Luxemburg oder Henryk Grossmann gingen ganz
selbstverständlich von einer „Marxschen Zusammenbruchstheorie“ aus. Im
Marxschen Kapital ist aber keine Zusammenbruchstheorie auszumachen. Zwar
ist in einer bekannte Stelle im 3. Band von den „Schranken“ der
kapitalistischen Produktion die Rede (MEW 25: 260), doch sind damit keine
zeitlichen Schranken gemeint, kein Schlußpunkt kapitalistischer Entwicklung,
sondern die grundsätzliche Bornierung, die diese Entwicklung begleitet: „Das
Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät
in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des
vorhandnen Kapitals“ (ebd.).[36]
Entgegen der Vorstellung einer Zusammenbruchskrise ist festzuhalten, dass
Krisen Lösungen, wenn auch gewaltsame, von Widersprüchen sind: Die von
den Krisen angerichteten Zerstörungen sind für die weitere Entwicklung des
kapitalistischen Systems gerade produktiv. Allerdings reduziert sich
Krise bei Marx nicht auf die Beseitigung von Ungleichgewichten. Die Marxsche
Konzeption einer krisenhaften kapitalistischen Dynamik (die, was Marx noch
nicht explizit unterschieden hat, sowohl „kleine“ zyklische als auch „große“
strukturell-überzyklische Krisen umfaßt) läßt sich eher als implizite Kritik
der in der Volkswirtschaftslehre verbreiteten Dichotomie von Gleichgewicht und
Ungleichgewicht interpretieren. Resultat der Krise ist nicht ein neue stabiles
Gleichgewicht, sondern eine Konstellation ökonomischer Kohärenz, deren
Merkmale gerade nicht im vorhinein zu bestimmen sind. Diese kohärente
Konstellation liefert die Rahmenbedingungen für eine neue
Akkumulationsbewegung, in deren Verlauf wiederum zusammengehörige Momente
auseinanderstreben, sich verselbständigen und damit die kohärente Konstellation
untergraben, bis schließlich eine weitere Krise unausweichlich ist.
Die von Marx angestrebte Darstellung der kapitalistischen
Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“ (MEW 25: 839) umfaßt zwar die
dieser Produktionsweise immanenten Krisentendenzen, aber kein
allgemeines Krisenmodell, in das nur noch einige Parameter einzutragen
wären. Krisenprozesse spielen sich in einer historischen Zeit unter nicht
wiederholbaren Umständen ab, sie tragen daher stets eine historische Signatur.
Dies ist nur ein anderer Ausdruck, von dem weiter oben herausgestellten
Sachverhalt, dass die kapitalistische Dynamik eine nicht kalkulierbare
Unsicherheit, eine unvorhersehbare ökonomische Zukunft produziert.
Allerdings verläuft die Entwicklung des Kapitalismus auch nicht in einem
zufälligen Hin und Her. Vergleicht man die kapitalistischen
Globalisierungsprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Kapitalismus in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass Vieles von dem,
was Marx zum „idealen Durchschnitt“ der kapitalistischen Produktionsweise
rechnete, erst viel später praktische Wahrheit erlangte: so ist die Produktion
relativen Mehrwerts davon abhängig, dass die von den Arbeitskräften
konsumierten Lebens- und Subsistenzmittel kapitalistisch produziert werden, was
für die entwickelten kapitalistischen Länder auf einer umfassenden Ebene erst
mit dem Fordismus des 20. Jahrhundert durchgesetzt wurde. Dass das Kreditsystem
einerseits steuernd für die kapitalistische Produktion wirkt, andererseits aber
blockierend, indem es durch immer neue Instrumente den Widerspruch zwischen
industriellem und fiktivem Kapital steigert, wurde auf großer Stufenleiter mit
der Internationalisierung des Finanzsystems in den 70er und 80er Jahren
deutlich. Und schließlich war es für die Marxsche Analyse der „allgemeinen
Natur des Kapitals“ nur von untergeordneter Bedeutung, dass der Kapitalismus in
einzelnen Nationalstaaten existierte, der Weltmarkt galt ihm als „die Basis und
die Lebensatmosphäre der kapitalistischen Produktionsweise“ (MEW 25: 120) -
auch dies ist mit den Globalisierungsprozessen der 90er Jahre in einer ganz
neuen Weise praktisch wahr geworden. Wenn auch der traditionelle,
weltanschauliche Marxismus der Arbeiterbewegung, wie er zu Beginn dieses
Artikels skizziert wurde, weitgehend erledigt ist, so gilt dies nicht für Marx‘
Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie: Dem Niveau dieser Ökonomiekritik
scheint der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts jedenfalls eher angemessen zu
sein als der des 19. Jahrhunderts.
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[1] Die Verflachung und Dogmatisierung des
Marxismus in der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung
wurde schon häufiger untersucht, vgl. z.B. Fetscher (1967), Negt (1969),
Mehringer/Mergner (1973), Fleischer (1993).
[2] In den bis in die 70er Jahre hinein sehr einflußreichen
Darstellungen der Marxschen Ökonomie von Sweezy (1942) und Mandel (1962) kommt
diese traditionelle Auffassung besonders deutlich zum Ausdruck. Ihre Wurzeln
reichen bis zu Kautskys populärer Einführung in den ersten Band des Kapital
(Kautsky 1887) und Engels Nachtrag zum dritten Band des Kapital, wo er
Marx‘ Untersuchung der einfachen Zirkulation von Ware und Geld als abstrakte
Darstellung einer vorkapitalistischen „einfachen Warenproduktion“ auffaßt.
[3] Dass sich die Marxsche Kritik der politischen
Ökonomie einem neuen Gegenstandsverständnis verdankt, wurde insbesondere von
Brentel (1989) im Anschluß an die Arbeiten von Backhaus (gesammelt in Backhaus
1997) herausgestellt.
[4] Auch dieser Zusammenhang wurde erst in den
70er Jahren auf breiterer Ebene im Anschluß an die Arbeiten von Sohn-Rethel
(1970, 1971) und Müller (1977) diskutiert.
[5] Genausowenig wie sich Verkehrungen auf die
interessierte Manipulation der Herrschenden reduzieren, läßt sich umgekehrt aus
der Perspektive des Proletariats eine besonders privilegierte
Erkenntnismöglichkeit ableiten. Dies wird aber unterstellt, wenn - wie im
Marxismus-Leninismus - behauptet wird, Marx könne den Kapitalismus nur deshalb
adäquat analysieren, weil er auf dem „Standpunkt des Proletariats“ stehe. Vor dem
Hintergrund der von Marx betonten Mystifikationen scheint auch die von Ganßmann
vertretene Position, Marx knüpfe mit seiner Werttheorie „an die Erfahrungen und
Interessen der Lohnarbeiter“ an, er analysiere seinen Gegenstand „in einer
theoretisch rekonstruierten (und damit rationalisierten) Teilnehmerperspektive
der Lohnabhängigen“ (Ganßmann 1996: 88f) wenig plausibel.
[6] Sweezy (1942) und Meek (1956) ignorieren in
ihren einflußreichen Arbeiten die Wertformanalyse vollständig, Mandel (1962)
faßt sie rein historisch auf.
[7] Produktionspreise lassen sich auch ohne
Kenntnis von Wertgrößen bestimmen. Dies hat zu dem bekannten Vorwurf geführt,
die Arbeitswerttheorie sei „redundant“, der nicht nur von Marx-Kritikern
sondern im Rahmen des „analytischen Marxismus“ auch von Marxisten erhoben wurde
(z.B. Steedman 1977). Die seit Anfang der 80er Jahre vor allem im
angelsächsischen Raum diskutierte „New Solution“ des Transformationsproblems,
welche die „Transformation“ auf das Nettoprodukt einschränkt und damit eine Reihe
von Schwierigkeiten vermeidet, verbleibt immer noch im Rahmen einer
Arbeitsmengentheorie des Werts, woran auch der von ihr betonte „monetary
expression of labor time“ nichts ändert, dient er doch lediglich als eine Art
Proportionalitätsfaktor zwischen verausgabter Arbeitszeit und Geldmenge. Vgl.
zur neueren werttheoretischen Diskussion aus dieser Perspektive Foley (2000),
zu den Verkürzungen der rein quantitativen Debatte um das
Transformationsproblem siehe Ganßmann (1983), Heinrich (1988).
[8] Dass die Marxsche Kritik der politischen
Ökonomie eine ganze Reihe von Ambivalenzen aufweist, insofern sie zwar eine
wissenschaftliche Revolution darstellt, die auf einem Bruch mit dem
theoretischen Feld der klassischen (und neoklassischen) Ökonomie beruht,
andererseits aber an vielen Stellen doch noch Elementen dieses Feldes verhaftet
bleibt, habe ich in Heinrich (1999) aufzuzeigen versucht.
[9] Dass die Marxsche Werttheorie im Unterschied
zur traditionell „marxistischen“ Werttheorie zugleich Geldtheorie ist und auf
eine Kritik prämonetärer Werttheorien abzielt, wurde zuerst von Hans-Georg
Backhaus in den 70er Jahren herausgestellt (vgl. Backhaus 1997), vgl. zum
kritischen Gehalt der Marxschen Werttheorie auch Behrens (1993) und Rakowitz
(2000). - Rubin (1924) war einer der wenigen älteren Autoren, der die Marxsche
Werttheorie nicht auf eine Arbeitsmengentheorie reduzierte. Allerdings wurde
sein Buch erst in den 70er Jahren einflußreich.
[10] Zwar spricht Marx von abstrakter Arbeit als
„Wertsubstanz“, doch zeigt die damit einhergehende Metaphorik, dass es sich um
eine ganz eigentümliche Substanz handelt: die Wertgegenständlichkeit bezeichnet
Marx im Kapital als „gespenstige Gegenständlichkeit“ (MEW 23: 52) und im
Überarbeitungsmanuskript für die zweite Auflage nennt er sie sogar „eine rein
phantastische Gegenständlichkeit“ (MEGA II.6: 32). In diesem Manuskript stellt
Marx auch deutlicher als im Kapital heraus, dass den Arbeitsprodukten
Wertgegenständlichkeit erst innerhalb ihrer Gleichsetzung im Tausch zukommt: „Ein
Arbeitsprodukt, für sich isolirt betrachtet, ist also nicht Werth, so wenig wie
es Waare ist. Es wird nur Werth, in seiner Einheit mit andrem Arbeitsprodukt,
oder in dem Verhältniß, worin die verschiednen Arbeitsprodukte, als Krystalle
derselben Einheit, der menschlichen Arbeit, einander gleichgesetzt sind“ (MEGA
II.6: 31). Dass die Produkte erst im Tausch zu Waren werden und ihre
Wertgegenständlichkeit erhalten, schließt natürlich nicht aus, dass ihr
Wertcharakter bereits bei ihrer Produktion antizipiert wird und die
Produktionsentscheidungen beeinflußt: nur ist die Antizipation des Werts nicht
mit dem Wert selbst zu verwechseln.
[11] Der skizzierten monetären Werttheorie wird
gerne der Vorwurf gemacht, sie löse Wert in ein Zirkulationsphänomen auf, und
dabei entstehe er doch in der Produktion (z.B. Trenkle 1998, zur Kritik:
Heinrich 1999a). Ein solcher Einwand offenbart ein quasi dingliches Verständnis
von Wert, das noch dem von Marx kritisierten Fetischismus aufsitzt. Wert ist
aber nur die gegenständliche Reflexion eines gesellschaftlichen
Verhältnisses, ohne dieses Verhältnis ist auch der Wert nicht zu haben.
Dass Wert nur in der Gleichsetzung im Tausch existiert (vorher ist er nur
vorgestellter, antizipierter Wert), schließt keineswegs aus, dass die Wertgröße
von den Produktionsbedingungen abhängt - allerdings nicht ausschließlich, wie
Marx an verschiedenen Stellen klarmacht. Wird über das gesellschaftliche
Bedürfnis hinaus produziert, so gilt die dabei verausgabte überschüssige Arbeit
auch nicht als wertbildend (vgl. MEW 23: 121f; MEW 25: 686f; MEW 26.2: 521).
[12] Auch nicht besser ist das Argument, Marx müsse
bei der Wertformanalyse eine Geldware voraussetzen, da alles andere bereits die
Existenz des Staates unterstellen würde. Dem läßt sich entgegenhalten, dass die
einfache Zirkulation von Ware und Geld ja nicht eine selbständige
Gesellschaftsformation, sondern nur die „abstrakte Sphäre des bürgerlichen
Gesammtproductionsprocesses“ darstellt, die unselbständig ist und gerade
deshalb auf ihr vorausgesetzte Verhältnisse hinweist (MEGA II.2: 68f, vgl. auch
MEGA II.1.1: 177).
[13] Vgl. dazu auch die ausführliche Diskussion
der Marxschen Kredittheorie und ihrer Vereinbarkeit mit der Annahme einer
Geldware bei Ganßmann (1996, Kapitel 8).
[14] Ausführlicher habe ich diese Argumente in
Heinrich (1999: 233ff und 302ff) entwickelt.
[15] In eine solche Richtung zielen etwa die
Kritiken von Betz (1988), Heine/Herr (1992) oder Riese (1994). Allerdings gibt
es auch eine Reihe marxistischer Ansätze, die die Marxsche Akkumulationstheorie
in dieser eher „realwirtschaftlichen“ Weise auffassen, so etwa Krüger (1986).
Vgl. zur Kritik an solchen Interpretationen auch Hein (1998), der die
Akkumulationstheorie auf der Grundlage der monetären Werttheorie diskutiert.
[16] Es kann also nicht davon die Rede sein, dass
Marx die Investitionen der laufenden Periode durch die realisierten Profite der
Vorperiode beschränken würde (so etwa Betz 1988: 104f; Heine/Herr 1992: 206).
Ganz im Gegenteil: so betont Marx im dritten Band des Kapital, dass es
gerade der Kredit ist, der den Reproduktionsprozeß „bis zur äußersten Grenze
forciert“ und der als „Haupthebel der Überproduktion“ (MEW 25: 457) wirke.
[17] Der Kreditabschnitt ist allerdings der
unabgeschlossenste und fragmentarischste Teil des dritten Bandes, der zudem
noch von Engels in einer äußerst problematischen Weise ediert wurde (vgl. zu
den Editionsproblemen des dritten Bandes, die durchaus inhaltliche Konsequenzen
haben Vollgraf/Jungnickel 1995, Heinrich 1996).
[18] Auch bei Keynes ist der Zins nicht die
Quelle des Profits, sondern ein den Unternehmern in der Konkurrenz auferlegter
Zwang einen Profit zu erzielen, aus dem sie dann den Zins zahlen können. Dazu
muß es ihnen aber überhaupt möglich sein diesen Profit zu produzieren - und
dies ist das Thema, das Marx vor der Darstellung des Kreditsystems
untersucht.
[19] Verfehlt erscheint der Versuch von Hajo
Riese, aufgrund der Dominanz der Kreditverhältnisse eine keynesianische
Verpflichtungsökonomie einer Tauschökonomie (der neben Klassik und Neoklassik auch
Marx zugeordnet wird) gegenüberzustellen: „Die
keynesianische Ökonomie liefert eine Theorie der Verpflichtung und nicht eine
Theorie des Tausches; genauer gesagt, liefert sie eine Theorie, in der sich
eine Notwendigkeit zum Tausch aus der Verpflichtung des Schuldners zur
Zurückhaltung des bereitgestellten Geldes ergibt, weil Prämie und Rückfluß des
Geldes zu erwirtschaften sind. (...) Für die Geldökonomie ergibt sich der
Tausch aus dem Kredit, für die Tauschökonomie ergibt sich der Kredit aus dem
Tausch" (Riese 1983: 107f). Unklar bleibt aber, warum überhaupt eine
Verpflichtung eingegangen wurde, ob sie nicht nur deshalb eingegangen wurde, um
ein Tauschmittel zu erhalten, so dass der Tausch dem Kredit nicht nur nach -
sondern ebenso vorgeordnet ist. - In neueren Arbeiten hat Riese seine Position
noch radikalisiert. Weder Klassik/Neoklassik noch Keynes hätten das „Rätsel“
Geld gelöst: beide würden Geld über eine Funktion definieren (Tauschmittel bzw.
Wertaufbewahrung), die Geld zwar auch übernehmen würde, die aber nicht
die für Geld spezifische sei. Diese spezifische Funktion sieht Riese im Geld
als „ultimativem Medium der Erfüllung von Kontrakten“ (Riese 1998: 47; vgl.
auch 55) und als solches Medium müsse es von einer Institution garantiert sein
- der Zentralbank (ebd.). Die Frage, warum ein „ultimatives Medium der
Erfüllung von Kontrakten“ überhaupt notwendig ist, wird von Riese aber nicht
einmal gestellt. Daher entgeht ihm auch das Spezifische der Marxschen
Geldtheorie: Marx setzt nicht einfach die Tauschmittelfunktion des Geldes als
zentrale Bestimmung gegen andere Geldfunktionen, er fragt vielmehr, worin die
Notwendigkeit eines selbständigen Tauschmittels besteht und erst danach
sozusagen auf einer zweiten Stufe entwickelt Marx die Geldfunktionen und erst
dann wäre die Frage der Geldversorgung (ob über eine Zentralbank oder nicht) zu
diskutieren.
[20] Marx spricht daher davon, dass das
Kapitalverhältnis im zinstragenden Kapital seine „äußerlichste und
fetischartigste Form“ (MEW 25: 404) erhalten habe: „Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines
Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von
Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltslose Form“ (MEW 25: 405).
[21] Krätke (2000) rekonstruiert die innere Logik
der Marxschen Kredittheorie nicht nur entlang des „fiktiven Kapitals“, sondern
auch der „fiktiven Ware“ und des „fiktiven Geldes“. Die beiden letzten Begriffe
finden sich zwar nicht bei Marx, alle drei Begriffe zusammen charakterisieren
aber treffend die Themen, die Marx analysiert.
[22] Dass Walras, der Vater der modernen
Gleichgewichtstheorien, auf die Fiktion eines „Auktionators“ zurückgriff, der
so lange Preise ausruft, bis eine Gleichgewichtskonstellation erreicht ist und
dann erst Tauschakte (zu diesen Preisen erlaubt), ist keinem besonderen Mangel
der Neoklassik geschuldet, sondern drückt ein systematisches Defizit jeder
Theorie aus, die sich auf die Untersuchung von Gleichgewichtszuständen
beschränkt. Walras muß man zu Gute halten, dass er ein Bewußtsein von dieser
Problematik hatte. Dies gilt auch für kritische Neoklassiker wie etwa Arrow
oder Hahn, die sich über die Grenzen ihres Paradigmas durchaus im Klaren sind
(vgl. Hahn 1984). Für die modernen Epigonen der Neoklassik, insbesondere wenn
sie wirtschaftspolitische Empfehlungen aus ihrer Theorie ableiten wollen,
trifft dies allerdings nicht zu. Sie verwechseln häufig komparative Statik mit
Dynamik und unterstellen (ohne dies jedoch begründen zu können), dass wenn man
eine Größe in einem ökonomischen System ändert, sich die übrigen nach einer
gewissen Zeit so einpendeln werden, dass dann ein neuer zu dieser Größe
„passender“ Gleichgewichtszustand entsteht.
[23] In der hier vorgeschlagenen Interpretation
stellt Marx geradezu einen Gegenpol zu dem schulenübergreifenden
Gleichgewichtsdenken der modernen Volkswirtschaftslehre darstellt. Keynes
scheint mir in dieser Frage eine Zwitterstellung einzunehmen. - Eher unter
einer gleichgewichtstheoretischen Perspektive diskutiert Schabacker (1998) die
Marxsche Kapitaltheorie in ihrem Verhältnis zur modernen Theorie.
[24] Das Marxsche „Gesetz“ bezieht sich nicht auf
die Profitrate eines Einzelkapitals, sondern auf die gesellschaftliche
Durchschnittsprofitrate. Damit diese fällt, müssen aber die Profitraten der
meisten (oder der größten) Einzelkapitale fallen. Marx geht daher von einem
beliebigen, aber typischen Einzelkapital aus. Kann gezeigt werden, dass dessen
Profitrate auf lange Sicht fällt, dann wird auch die Durchschnittsprofitrate
auf lange Sicht fallen.
[25] Deshalb unterstellt Marx auch bei der Ableitung
des Gesetzes, dass der Wert der Arbeitskraft durch ein unverändertes Niveau der
Lebenserhaltung bestimmt ist, so dass mit dem Wert der Lebensmittel auch der
Wert der Arbeitskraft sinkt. Gelingt ihm
die Ableitung des Gesetzes unter diesen Bedingungen, dann hat er gezeigt, dass
der kapitalistischen Produktionsweise eine Tendenz zum Profitratenfall immanent
ist, die ganz unabhängig davon ist, ob es etwa durch Arbeitskämpfe zu einer
Erhöhung des Reproduktionsniveaus und damit auch zu einer Steigerung des Werts
der Arbeitskraft kommt.
[26] Marx abstrahiert hier, wie meistens, wenn
es um den Profitratenfall geht, vom fixem Kapital.
[27] Es ist also nicht richtig, wie zuweilen
behauptet wurde, dass Marx sein Gesetz unter der Voraussetzung einer konstanten
Mehrwertrate ableitet und die steigende Mehrwertrate zu den entgegenwirkenden
Ursachen rechnet: was er dort betrachtet ist eine Mehrwertrate, die aus anderen
Gründen als einer gestiegenen Produktivität steigt, etwa aufgrund der
Intensivierung der Arbeit oder einer Verlängerung des Arbeitstages.
[28] Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man den
Ausdruck für die Profitrate p‘ = m / (c + v)
durch
v kürzt. Dann erhält man p‘ =
(m/v) / (c/v
+ 1)
[29] Dass Marx, obwohl er bereits zu Beginn des 13.
Kapital meint, das Gesetz bewiesen zu haben (vgl. MEW 25: 223), immer wieder
Versuche macht, es zu begründen, läßt vermuten, dass ihm seine eigenen Beweise
nicht ganz geheuer sind.
[30] Im Grunde bekommt man schon Probleme, wenn man dieses
Wachstum streng begründen will. Marx selbst führt unter den dem Profitratenfall
entgegenwirkenden Ursachen die Verbilligung der Elemente des konstanten
Kapitals infolge der Produktivkraftsteigerung an und konzediert: „In einzelnen
Fällen kann sogar die Masse der Elemente des konstanten Kapitals zunehmen,
während sein Wert gleich bleibt oder gar fällt.“ (MEW 25: 246). Dass es sich
dabei aber notwendigerweise nur um Einzelfälle handelt, wird nicht
gezeigt.
[31] Dass man über drei und nicht nur zwei Größen
Bescheid wissen muß, liegt einfach daran, dass die Profitrate, egal mit welchen
Hilfskonstruktionen man sie auch umschreibt, immer wieder durch einen
Quotienten ausgedrückt wird. Um die Richtung zu bestimmen, in die sich
ein Quotient bewegt (ob er steigt oder fällt, egal um wieviel), ist es aber
nicht nur notwendig die Bewegungsrichtung von Zähler und Nenner zu kennen, als
Drittes ist auch zu klären, wer von beiden schneller ist als der andere.
Ausführlicher bin ich auf die verschiedenen Rettungsversuche des „Gesetzes“ in
Heinrich (1999: 327ff) eingegangen, dort finden sich auch weitere
Literaturhinweise zur Debatte.
[32] Krisentheoretische Ansätze finden sich nicht
nur im Kapital, sondern auch in den Grundrissen und den Theorien
über den Mehrwert, alles zusammen ergibt die (einander bisweilen
widersprechenden) Facetten eines unvollendeten Projekts. Die Entwicklung und
die einzelnen Aspekte der Marxschen Krisentheorie wurden aus ganz
unterschiedlichen Perspektiven untersucht, vgl. etwa Itoh (1976), Clarke (1994),
Heinrich (1999: 341ff).
[33] Ansätze dazu
finden sich bei Marx aber an anderen Stellen. So wird gerne die Äußerung
zitiert: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung
der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die
Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit
der Gesellschaft ihr Grenze bilde" (MEW 25: 501). Eine grundsätzliche
Ablehnung erfährt die Unterkonsumtionstheorie dann in einem der letzten, Ende
der 1870er Jahre entstandenen Manuskripte zum zweiten Band des Kapital
(vgl. MEW 24: 409f).
[34] Es ist also
keineswegs so, wie häufig angenommen wird (z.B. Shaikh 1978: 24), dass in Marx'
Analyse die effektive Nachfrage keine Rolle spielen würde.
[35] So etwa in den Grundrissen (MEGA II.1.1:
112; MEGA II.1.2: 357), in den Theorien über den Mehrwert (MEW 26.2:
501) oder im Kapital (MEW 25: 316). Vgl. zu diesem zentralen Aspekt des
Marxschen Krisenbegriffs auch Altvater (1983).
[36] Lediglich
in den Grundrissen finden sich bei Marx Überlegungen, die man einer
Zusammenbruchstheorie zuordnen kann (MEGA II.1.2: 580ff). - In den 90er Jahren
erlebte die Zusammenbruchstheorie in den Veröffentlichungen von Robert Kurz
(1999) und der Gruppe Krisis eine überraschende Auferstehung, vgl. zur
Kritik dieser Position Heinrich (1999a, 2000).