Michael Heinrich

Die Marxschen Texte zur Ökonomiekritik

unveröffentlichtes Seminarmaterial, Berlin 2000

 

 

Von seinem Hauptwerk Das Kapital hat Marx nur den ersten Band selbst veröffentlicht, die Bände zwei und drei blieben unvollendet und wurden erst nach Marx Tod von Engels aus dem Nachlass herausgegebenen. Da das Kapital ein Fragment blieb, wird immer wieder auf andere Texte von Marx zurückgegriffen, von denen die meisten ebenfalls unveröffentlicht und unvollendet sind. Da Marx eine bestimmte Entwicklung durchgemacht hat und manche Auffassungen revidierte oder veränderte, sollte bei allen Schriften berücksichtigt werden, in welcher Phase dieser Entwicklung sie entstanden sind. Die folgende Übersicht über die für die Ökonomiekritik wichtigsten Texte, soll dazu eine erste Orientierung bieten.

 

Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) [MEW 40; MEGA I.Abt., Bd.2]

Unveröffentlicht, unvollendet und von Marx unbetitelt (auch unter den Titeln Pariser Manuskripte bzw. Nationalökonomie und Philosophie bekannt), zuerst 1932 veröffentlicht. Marx steht hier stark unter dem Einfluss von Feuerbachs Philosophie des „menschlichen Wesens“, mit der dieser Philosophie und Religion kritisierte. Marx überträgt diese Kritik auf die Ökonomie: im Kapitalismus sind die Menschen von ihrem wirklichen menschlichen Wesen „entfremdet“, der Kommunismus ist die Aufhebung dieser Entfremdung. Die Nationalökonomie kritisiert Marx, da sie den entfremdeten Zustand als natürlichen betrachtet; sie sei daher nur Wissenschaft innerhalb dieser Entfremdung.

 

Thesen über Feuerbach (1845), Deutsche Ideologie (1845/46) [MEW 3]

Unveröffentlicht, die Feuerbachthesen wurden 1888, die Deutsche Ideologie 1932 veröffentlicht. In beiden Texten wird die (Feuerbachsche) Philosophie des menschlichen Wesens kritisiert, “Wesen” und “Entfremdung” als philosophische Konstrukte abgelehnt, statt dessen sollen die realen ökonomischen Verhältnisse - Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse - analysiert werden. Ob hier tatsächlich ein Bruch mit der Wesensphilosophie vorliegt, oder ob für Marx auch später noch eine bestimmte Vorstellung des menschlichen Wesens und der Entfremdung davon eine Rolle spielt, ist in der Diskussion äußerst umstritten.

 

Kommunistisches Manifest (1848) [MEW 4]

Von Marx und Engels als Programmschrift für den „Bund der Kommunisten“ veröffentlicht. Es enthält eine Skizze der Entwicklung des Kapitalismus aus dem Feudalismus. Klassenkämpfe gelten als Motor geschichtlicher Entwicklung, die schließlich auch zum Ende des Kapitalismus führen. Die Passagen, die sich mit der politischen Ökonomie des Kapitalismus im engeren Sinne beschäftigen, sind noch unausgereift, die eigentliche Beschäftigung mit der politischen Ökonomie steht Marx erst noch bevor.

 

 

Zwar hatte Marx die Hauptwerke von Smith, Ricardo, Say und Mill schon in den vierziger Jahren gelesen, aber erst nach seiner (erzwungenen) Übersiedlung nach London beginnt er ab 1850 ein intensives Studium ökonomischer Literatur in der Bibliothek des British Museum. Hier findet er eine ungeheure Masse an Material: Bücher, Zeitschriften, Pamphlete bekannter wie unbekannter Autoren. Zugleich befindet er sich in London im Zentrum des Kapitalismus schlechthin und kann in der Presse wichtige Entwicklungen detailliert verfolgen. Es entstehen in den 50er und 60er Jahren umfangreiche Exzerpthefte zu unterschiedlichsten Themen und Autoren, auf die sich Marx dann bei der Ausarbeitung seiner Texte stützt.

Bereits in den frühen 50er plante Marx eine umfassende Ökonomiekritik, aber erst 1857 beginnt er tatsächlich mit dem von ihm als „Kritik der politischen Ökonomie“ bezeichneten Unternehmen. Es entstehen eine Reihe von Manuskripten, von denen die meisten nicht abgeschlossen werden: beim Versuch, Manuskripte für den Druck zu überarbeiten, tauchen immer wieder neue Probleme auf (oder alte Probleme werden neu angegangen), statt einem druckfertigen Manuskript entsteht dann ein weiteres Protokoll eines Forschungsprozesses, das erneut überarbeitet werden muss. Wenn im folgenden nichts anderes vermerkt ist, dann sind die nun erwähnten Marxschen Texte unvollendet und von Marx selbst nicht veröffentlicht worden.

 

Einleitung (1857) [Grundrisse, Berlin 1953; MEW 42; MEGA II. Abt., Bd. 1.1]

Dieser Text sollte die Einleitung des geplanten großen Werkes bilden. Bekannt geworden ist er vor allem durch seine Überlegungen zur Methode des „Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten“. Allerdings sollten diese - vor der eigentlichen Darstellung niedergeschriebenen - Überlegungen nicht als Marx‘ letztes Wort zur Methode verstanden werden, sondern als Zusammenfassung bisheriger Ergebnisse, die in der Folge noch modifiziert werden.

 

Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) (1857/58) [Grundrisse, Berlin 1953; MEW 42; MEGA II. Abt., Bd. 1.1-1.2]

Ein erster (von Marx unbetitelter) Entwurf der geplanten Ökonomiekritik. Das Manuskript entwickelte sich aus einer Auseinandersetzung mit der Schrift eines Schülers von Proudhon (einem von Marx‘ Lieblingsgegnern). Grob lässt sich bereits die thematische Struktur der späteren drei Bände des Kapital erkennen: Produktionsprozess, Zirkulationsprozess, Gesamtprozess (hier noch: Kapital und Profit). Marx ringt aber noch mit vielen kategorialen Schwierigkeiten und Problemen der Darstellungsstruktur. Viele später im Kapital behandelte Themen werden überhaupt nicht angesprochen, dafür gibt es eine Reihe von Überlegungen, die sich später so nicht mehr finden.

 

Während der Arbeit an den Grundrissen fasste Marx den Plan, seine Kritik der politischen Ökonomie in sechs Bücher einzuteilen (Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt). Diese Bücher sollten in Form fortlaufender Hefte erscheinen.

 

Urtext von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1858) [Grundrisse, Berlin 1953 (Anhang); MEGA II. Abt. Bd.2]

Der Urtext ist der (unvollendete und unvollständig erhalten gebliebene) Entwurf des ersten Heftes. Wichtig ist er vor allem wegen einer Darstellung des kategorialen Übergangs vom Geld zum Kapital, der in späteren Darstellungen ausgelassen wird.

 

Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft (1859) [MEW 13; MEGA II. Abt., 2.Bd.]

Diese Schrift wurde von Marx selbst veröffentlicht. Ihr Vorwort enthält eine häufig zitierte, überaus knappe (und deshalb auch mit Vorsicht zu benutzende) Skizze der materialistischen Geschichtsauffassung. Im Haupttext wird Ware und Geld behandelt, also der Stoff der ersten drei Kapitel des ersten Kapital-Bandes. Allerdings sind einige Gewichtungen anders gesetzt als im Kapital, so dass sich eine parallele Lektüre lohnt. Außerdem gibt es noch eigenständige theoriegeschichtliche Abschnitte zu den Theorien über Wert und denen über Geld, die im Kapital fehlen, da Marx später ein eigenes theoriegeschichtliches Werk als vierten Band des Kapital plante.

 

Zur Kritik der politischen Ökonomie (1861-63) [vollständig nur in: MEGA II. Abt., Bd. 3.1-3.6; etwa die Hälfte des Manuskripts sind die Theorien über den Mehrwert (Bd. 3.2-3.4) auch in: MEW 26.1-26.3]

Ursprünglich als Fortsetzung des ersten Heftes geplant, entwickelte sich der Text schnell zu einem für Marx typischen Forschungsmanuskript. Es beginnt mit der Darstellung des Kapitals und enthält Themen, die später im ersten und im dritten Band des Kapital auftauchen. Die Hälfte dieses umfangreichen Manuskripts nehmen die Theorien über den Mehrwert ein, die vielfach als „vierter Band“ des Kapital (so auch ihr Untertitel in MEW 26.1-26.3) betrachtet werden, was allerdings nicht zutrifft: in dem geplanten vierten Band wollte Marx eine umfassende Theoriegeschichte geben, die Theorien, sind jedoch vor allem auf die Theoriebildung zu Mehrwert und Profit bezogen. Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung mit den früheren Autoren in erster Linie Bestandteil des eigenen Forschungsprozesses.

 

Ökonomische Manuskripte 1863-65 [MEGA II. Abt., Bd. 4.1-4.2]

Ende 1862 hatte sich Marx entschieden keine Fortsetzung des 1859 erschienen Ersten Heftes herauszubringen, sondern ein selbständiges Werk Das Kapital, das den ursprünglichen Titel Kritik der politischen Ökonomie nur noch als Untertitel erhalten sollte. Es entstanden nun Entwürfe für alle drei Kapital-Bände. Vom Entwurf für den ersten Band blieb allerdings nur das sechste Kapitel (es sollte das Schlusskapitel bilden) übrig, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses (in MEGA II. Abt., Bd. 4.1, auch separat: Frankfurt 1969). Dieses Kapitel, das sich unter anderem mit formeller und reeller Subsumtion der Arbeit unters Kapital, sowie der Ware als Voraussetzung und Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses beschäftigt, wurde in die 1867 veröffentlichte Druckfassung des ersten Bandes nicht aufgenommen. Das Manuskript zum zweiten Band (in: MEGA II. Abt. Bd. 4.1) behandelt die wesentlichen Themen, wurde von Engels bei der Herausgabe des zweiten Bandes allerdings nicht berücksichtigt, er benutzte eine Reihe von später entstandenen Texte. Dagegen stützte sich Engels bei der Herausgabe des dritten Bandes vor allem auf das 1864/65 geschriebene Manuskript (MEGA II. Abt. Bd.4.2). Die Engelssche Edition des dritten Bandes weist aber eine Reihe von inhaltlich bedeutsamen Abweichungen gegenüber dem Marxschen Originalmanuskript auf.

 

Das Kapital. Erster Band (1867) [1.Auflage 1867: MEGA II. Abt., Bd. 5; 2.Aufl. 1872: MEGA II. Abt., Bd. 6; 4. Aufl. 1890: MEW 23]

1867 konnte Marx endlich den ersten Band des lange geplanten Werkes veröffentlichen, 1872 erfolgte die 2. Auflage, die vor allem im Abschnitt über die Wertformanalyse beträchtliche Veränderungen mit sich brachte, wobei zwar einzelne Punkte präziser gefasst wurden, es aber auch zu einer stellenweise problematischen „Popularisierung“ kam. Für eine gründliche Auseinandersetzung mit der Marxschen Werttheorie sollten daher beide Fassungen benutzt werden. Bei der Überarbeitung der ersten Auflage entstand ein umfangreiches Manuskript (redaktioneller Titel in MEGA II. Abt., Bd. 6: Ergänzungen und Veränderungen zum ersten Band des Kapitals), in dem Marx unter anderem seine eigene Darstellung der Werttheorie kommentiert Ein weiterer Kommentar findet sich in den kurz vor Marx‘ Tod entstandenen Randglossen zu Wagner (MEW 19).

1872-1876 erschien eine französische Übersetzung, in der Marx im Akkumulationsabschnitt erhebliche Ergänzungen vornahm. Nach Marx‘ Tod brachte Engels 1883 die 3. und 1890 die 4. Auflage heraus (der Text in MEW 23 entspricht dieser 4. Auflage). Dabei arbeitete Engels die Veränderungen der französischen Ausgabe - allerdings nur teilweise - in den Text ein.

 

Das Kapital. Zweiter Band (1885) [MEW 24]

Engels stellte den Band aus verschiedenen Manuskripten zusammen, die Marx in den späten 60er und in den 70er Jahren geschrieben hatte, dieser Ausgabe folgt auch MEW 24.

 

Das Kapital. Dritter Band (1894) [MEW 25]

Hier benutzte Engels vor allem das Manuskript von 1864/65 nahm aber eine ganze Reihe von Umstellungen und Veränderungen vor (neben Umformulierungen stammen fast alle Untergliederungen und Überschriften von Engels). Nur einige längere Einschübe hat Engels gekennzeichnet, die Masse der Veränderungen, die zum Teil auch inhaltliche Konsequenzen haben, wurde jedoch nicht kenntlich gemacht. Der Text in MEW 25 folgt der Edition von Engels, das Originalmanuskript ist erst in den 90er Jahren in der MEGA erschienen. Für eine eingehendere Beschäftigung sollte unbedingt das Marxsche Originalmanuskript [MEGA II. Abt., Bd. 4.2] benutzt werden.

 

 

Zur Rezeption des Kapital

Der erste Band erschien fast 30 Jahre vor dem dritten Band und wurde daher auch weitgehend isoliert rezipiert. Dies änderte sich auch nach dem Erscheinen des dritten Bandes nicht grundsätzlich: die meisten LeserInnen kamen über den ersten Band nicht hinaus, vom zweiten und dritten Band wurden allenfalls einzelne Teile, wie etwa das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zur Kenntnis genommen. Die drei Bände bilden aber ein Ganzes; liest man nur Teile, dann wird das Bild nicht nur unvollständig, sondern auch schief. Reduziert man z.B. die Akkumulationstheorie auf das, was sich im ersten Band dazu findet, dann bleibt der gesamte Bereich des Kredits und des Aktienkapitals ausgeblendet. Die zentrale Bedeutung, die das Finanzsystem für die kapitalistische Entwicklung hat, erscheint dann überhaupt nicht mehr im Blickfeld.

Die Rezeption des Kapital wird noch durch zwei weitere Umstände erschwert. (1) Alle drei Bände, so wie sie seit gut 100 Jahren vorliegen und in MEW abgedruckt sind, wurden von Engels und nicht von Marx herausgegeben. Dabei nahm Engels eine Reihe von Texteingriffen vor (vor allem im dritten Band), die für die LeserInnen nicht kenntlich gemacht wurden und die gewisse inhaltliche Akzente verschoben haben. (2) Das Werk blieb ein Torso, dessen einzelne Teile unterschiedlich weit ausgearbeitet wurden. Insbesondere ist zu beachten, dass die Entstehungsreihenfolge der von Engels verwendeten Manuskripte nicht mit der Reihenfolge der Bände übereinstimmt: die jüngsten Manuskripte fanden Eingang in den zweiten Band, das älteste bildete die Grundlage des dritten Bandes. Insofern ist der dritte Band auch nicht der Abschluss des ganzen Unternehmens, an einigen Stellen ist der erste Band theoretisch weiter entwickelt als der dritte.

Eine kurze Charakterisierung der ökonomiekritischen Texte von Marx und Engels sowie der wichtigsten Sekundärliteratur, die sich auf diese Texte bezieht, findet sich bei: Michael Heinrich: Kommentierte Literaturliste zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Elmar Altvater u.a., Kapital.doc, Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot), 1999.