Michael Heinrich
Kritik der
politischen Ökonomie
in: Ulrich Albrecht, Helmut
Volger (Hg.): Lexikon der internationalen
Politik, München 1997
Mit diesem Ausdruck bezeichnete
Karl Marx (1818-1883) sein Vorhaben einer Analyse der kapitalistischen
Produktionsweise; er ist auch Untertitel seines Hauptwerkes Das Kapital (1867). Die Marxsche Kritik
zielte dabei sowohl auf die ökonomischen Verhältnisse selbst als auch auf deren
Darstellung in den politökonomischen Theorien, die er als wichtige reflexive
Instanz der bürgerlichen Gesellschaft betrachtete. Bei dem von Marx anvisierten
Vorhaben sind mehrere Ebenen zu unterscheiden.
(1) Marx will, wie er im
Vorwort zum 1.Band des Kapital
betont, das "ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft"
enthüllen. Dabei geht es ihm aber nicht nur um eine Darstellung des
zeitgenössischen Kapitalismus, sondern um das, was für die kapitalistische
Produktionsweise als solche, im Unterschied zu anderen Produktionsweisen
charakteristisch ist. Das empirische Material dient ihm daher nur zur
Illustration allgemeiner Zusammenhänge. - Betrachtet man Marx lediglich auf
dieser Ebene, so erscheint er als Nationalökonom, der mit seiner
Arbeitswerttheorie die Austauschverhältnisse der Waren auf die in ihrer
Produktion verausgabte Arbeitszeit zurückführte, der mit seiner Mehrwerttheorie
den Profit des Kapitalisten mit der Ausbeutung der Arbeiter erklärt und der
schließlich die langfristigen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus aufdeckt,
indem er zeigt, daß Kapitalakkumulation und Produktivkraftentwicklung über die
periodische Freisetzung von Arbeitskräften zu einer "industriellen
Reservearmee" und zur relativen (d.h. gemessen am Wachstum des
gesellschaftlichen Reichtums) Verelendung der Arbeiterklasse führen und daß die
immer größeren Kapitalvorschüsse, die zur Anschaffung immer raffinierterer
Maschinerie notwendig werden, letzten Endes einen tendenziellen Fall der
Profitrate und ökonomische Krisen bewirken. Für viele Marxisten galt diese
Analyse als Nachweis dafür, daß der Kapitalismus die von ihm selbst
hervorgebrachten Produktivkräfte auf längere Sicht nicht mehr beherrschen kann,
so daß eine sozialistische Gesellschaft nicht bloß Ausdruck eines subjektiven
Wollens, sondern ein objektives historisches Erfordernis sei. Kritiker dagegen
sehen hier (abgesehen von Einwänden im Einzelnen, etwa gegen das sog.
"Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate") eine deterministische
Geschichtsphilosophie am Werk, die letzten Endes auf spekulativen
Voraussetzungen beruht.
(2) Es wäre allerdings eine
unzulässige Verkürzung, die Kritik der politischen Ökonomie lediglich als
fachökonomische Theorie aufzufassen. Sie zielt nicht einfach auf eine mit den
vorhandenen ökonomischen Theorien konkurrierende Analyse des Kapitalismus,
sondern auf eine Untersuchung der Weise der Vergesellschaftung, die sich in den
kapitalistischen Verhältnissen ausdrückt: auf dieser Ebene betrachtet geht es
in der Arbeitswerttheorie nicht einfach um die Bestimmung von
Austauschverhältnissen, sondern um die Untersuchung des spezifischen
Charakters, den die Arbeit unter kapitalistischen Verhältnissen erhält (um das
Verhältnis von "konkreter" und "abstrakter" Arbeit), um den
Zusammenhang von Wert und Geld und um Geld als entscheidendes Medium der
Vergesellschaftung; auch die Mehrwerttheorie reduziert sich dann nicht auf die
Feststellung, daß die Lohnabhängigen nur einen Teil des von ihnen produzierten
Werts als Lohn erhalten (dies wurde schon von vielen Autoren vor Marx so
gesehen), vielmehr geht es darum, daß diese "Ausbeutung" keine
Verletzung des Äquivalententausches darstellt, sondern auf seiner Grundlage
erfolgt und sich reproduziert. Entlang diesem Strang der Analyse versuchte
Marx, eine Reihe von "Verkehrungen" aufzuzeigen. So treten im
Austausch die Menschen zwar in ein gesellschaftliches Verhältnis, dieses
erscheint aber nicht als ihr Verhältnis, sondern als Verhältnis von Dingen:
statt als Verhältnis ihrer Privatarbeiten als Verhältnis der von ihnen
produzierten Warenwerte, die aber einen gleichsam objektiven, vom Einzelnen
unabhängigen Charakter haben. Dieser von Marx als "Warenfetischismus"
bezeichnete Sachverhalt ist Ausdruck davon, daß sich der gesellschaftliche
Zusammenhang der Menschen ihnen gegenüber verselbständigt hat, daß er zu einer
"zweiten Natur" geworden ist, der die Einzelnen genauso ausgeliefert
sind wie der ersten. Die Theorien der politischen Ökonomie werden nun insofern
auf einer fundamentalen Ebene kritisiert, als sie bei all ihren Unterschieden
diesen Verkehrungen aufsitzen, sie als "natürlich" akzeptieren: so
wirft Marx der klassischen politische Ökonomie vor, daß sie zwar den Warenwert
auf die verausgabte Arbeit zurückgeführt habe, daß sie aber nicht einmal die
Frage aufgeworfen habe, warum verausgabte Arbeit überhaupt die Form des
Warenwerts annimmt.
(3) Die Darstellung von
"Verkehrungen" und "Fetischismus" im Kapital wird häufig mit der Entfremdungslehre des frühen Marx
ineins gesetzt. Marx war über eine Kritik der Hegelschen Philosophie zur Kritik
der Politik (als einer gegenüber der Gesellschaft verselbständigten Sphäre) und
bereits in seinen Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten (1844) zu einer ersten Kritik der Nationalökonomie gelangt.
Dort stellte er dem wirklichen "menschlichen Wesen" (das er als ein gesellschaftliches
und sich in der Arbeit verwirklichendes auffaßte) die kapitalistischen
Verhältnisse als einen Zustand der Entfremdung von diesem Wesen gegenüber
(insofern die Arbeiter weder ihre Produkte noch ihren Arbeitsprozeß
kontrollieren, so daß gerade die Kräfte und Fähigkeiten, die ihr menschliches
Wesen ausmachen, einem anderen gehören und ihnen selbst entfremdet sind). Der
Kommunismus sollte diese Entfremdung aufheben, indem die Arbeiter ihre
Tätigkeit und die Produkte ihrer Tätigkeit wieder selbst kontrollieren und sich
damit ihr eigenes menschliches Wesen wieder aneignen. Die nationalökonomischen
Theorien wurden von Marx insofern kritisiert, als sie die kapitalistische
Produktion nicht als entfremdeten Zustand betrachteten, sondern als einen dem
menschlichen Wesen gemäßen, womit sie die entfremdeten Zustände noch
affirmierten. In den Thesen über
Feuerbach und der Deutschen Ideologie
(1845/46) kritisierte Marx dann allerdings die Vorstellung von einem
ahistorischen menschlichen Wesen als eine Fiktion, so daß ihm künftig ein
solches Wesen auch nicht mehr als Maßstab der Kritik dienen konnte. - Die im Kapital getroffene Feststellung, daß die
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen als Eigenschaften von Dingen
erscheinen, daß die Menschen ihre eigenen Verhältnisse nicht kontrollieren,
sondern sie von ihnen als übermächtige Gewalt beherrscht werden, ist allerdings
nicht mehr auf normative Vorstellungen über das Wesen des Menschen angewiesen.
Es handelt sich in der Kritik der politischen Ökonomie nicht darum, wie etwas
gemessen an irgendwelchen moralischen Werten sein soll, sondern darum wie die
gegenwärtigen Zustände sind.
(4) Die kritische Darstellung
kapitalistischer Zustände kulminiert in der Feststellung, daß der Kapitalismus
die Entwicklung der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums zwar
in einem historisch ungekannten Ausmaß vorantreibt, aber nur indem er die
beiden Quellen dieses Reichtums, die Erde und den Arbeiter, untergräbt, indem
er Raubbau an den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse treibt. Dieser Raubbau
kann zwar in brutaleren oder milderen Formen auftreten, doch versucht Marx
gerade im Rahmen seiner Krisentheorie zu zeigen, daß das Kapital durch die
von seiner eigenen Entwicklung hervorgebrachten Sachzwänge immer wieder gezwungen
ist, seine Profitabilität durch einen Angriff auf die Lebensbedingungen der
Arbeiterklasse zu verbessern. Dabei geht es Marx nicht um eine moralische
Verurteilung der Kapitalisten, diese betrachtet er als "Charaktermasken",
die, um ihre eigene Fortexistenz als Kapitalisten zu sichern, gar nicht anders
handeln können. Es geht ihm vielmehr um die Aufklärung derjenigen, auf deren
Kosten sich dieses Gesellschaftssystem entwickelt und von deren kollektiver
Aktion er die Abschaffung des kapitalistischen Systems erwartet: nicht im
Namen der Moral, sondern des Interesses.
Von feministischer Seite wurde
an der Kritik der politischen Ökonomie die weitgehende Ausblendung der
Geschlechterverhältnisse bemängelt. Insbesondere wurde kritisiert, daß die vor
allem von Frauen im Haushalt geleistete, der Reproduktion der (männlichen)
Arbeitskraft dienende Arbeit, nicht thematisiert wird. Dadurch erscheine nur
der männliche Arbeitskraftbesitzer als ausgebeutet, während die
Ausbeutungsverhältnisse innerhalb des Haushalts ausgeblendet würden.
Eine Anwendung der Kritik der
politischen Ökonomie auf internationale Verhältnisse findet sich bei Marx nur
in rudimentärer Form. Zwar hebt er hervor, daß der Weltmarkt die eigentliche
Lebenssphäre des Kapitals sei, die ursprünglich geplanten Bücher über
Außenhandel, Staat und Weltmarkt wurden jedoch nie verfaßt. Diese Lücke
versuchten Rosa Luxemburg sowie W.I.Lenin durch ihre (sich stark von einander
unterscheidenden) Imperialismustheorien zu schließen. Elemente der Kritik der
politischen Ökonomie fanden auch Eingang in einzelne Varianten der
Dependenztheorien.
Literatur: Louis Althusser, Etienne
Balibar: Das Kapital lesen, Reinbek,
1972; Helmut Brentel: Soziale Form und
ökonomisches Objekt. Studien zum Gegenstands- und Methodenverständnis der
Kritik der politischen Ökonomie, Opladen 1989; Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche
Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und
klassischer Tradition, Hamburg 1991; Jacques Ranciere: Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie von den
"Pariser Manuskripten" zum "Kapital", Berlin 1972;
Helmut Reichelt: Zur logischen Struktur
des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt/M 1970; Claudia v. Werlhof:
Frauenarbeit: der blinde Fleck in der Kritik der politischen Ökonomie, in: Beiträge zur feministischen Theorie und
Praxis, Heft 1, 1978.