Michael Heinrich

Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung

Stuttgart, Schmetterling Verlag 2004

 

1. Kapitalismus und „Marxismus“

1.1 Was ist Kapitalismus?

Die gegenwärtigen Gesellschaften sind von einer Vielzahl von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen durchzogen, die sich in unterschiedlichen Formen zeigen. Wir finden asymmetrische Geschlechterverhältnisse, rassistische Diskriminierungen, enorme Besitzunterschiede mit entsprechenden Unterschieden im gesellschaftlichen Einfluss, antisemitische Stereotypen, Diskriminierung bestimmter sexueller Orientierungen. Über den Zusammenhang dieser Herrschaftsverhältnisse und insbesondere über die Frage, ob eines davon fundamentaler sei als die anderen, wurde schon viel debattiert. Wenn im folgenden ökonomisch begründete Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse im Vordergrund stehen, dann nicht deshalb, weil es die einzig relevanten Herrschaftsverhältnisse wären. Allerdings kann man nicht gleichzeitig von allem reden. In Marx’ Kritik der politischen Ökonomie geht es in erster Linie um die ökonomischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft, sie stehen in dieser Einführung daher im Mittelpunkt. Doch sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass mit der Analyse der Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise bereits alles Entscheidende über kapitalistische Gesellschaften gesagt wäre.

Ob wir in einer „Klassengesellschaft“ leben, scheint vor allem in Deutschland umstritten zu sein. Hier ist bereits die Verwendung des Begriffs „Klasse“ verpönt. Während Englands erzreaktionäre Premierministerin Margret Thatcher keine Probleme hatte von der „working class“ zu reden, kommt dieses Wort in Deutschland bereits Sozialdemokraten nur schwer über die Lippen. Hierzulande gibt es nur Arbeitnehmer, Unternehmer, Beamte und vor allem den „Mittelstand“. Dabei ist die Rede von Klassen keineswegs an sich schon besonders kritisch. Das gilt nicht nur für Vorstellungen von „sozialer Gerechtigkeit“, die einen Ausgleich zwischen den Klassen suchen, sondern auch für so manche angeblich „linken“ Vorstellungen von bürgerlicher Politik als einer Art Verschwörung der „herrschenden“ Klasse gegen den Rest der Gesellschaft.

Dass eine „herrschende Klasse“ einer „beherrschten“ und „ausgebeuteten“ Klasse gegenübersteht, mag vielleicht für einen konservativen Sozialkundelehrer, der nur „Bürger“ kennt, eine Überraschung sein, viel ausgesagt ist damit jedoch noch nicht. Alle uns bekannten Gesellschaften sind „Klassengesellschaften“. „Ausbeutung“ bedeutet zunächst einmal nur, dass die beherrschte Klasse nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt produziert, sondern auch den der herrschenden Klasse. Historisch sahen diese Klassen ganz unterschiedlich aus (Sklaven und Sklavinnen standen im antiken Griechenland den Sklavenbesitzern gegenüber, leibeigene Bauern im Mittelalter den Grundherren, und im Kapitalismus stehen sich Bourgeoisie [Besitzbürgertum] und Proletariat [lohnabhängige Arbeiter und Arbeiterinnen] gegenüber). Entscheidend ist wie Klassenherrschaft und Ausbeutung in einer Gesellschaft funktionieren. Und hier unterscheidet sich der Kapitalismus in zweierlei Hinsicht ganz grundlegend von vorkapitalistischen Gesellschaften:

1) In vorkapitalistischen Gesellschaften beruhte die Ausbeutung auf einem persönlichen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis: der Sklave war Eigentum seines Herrn, der leibeigene Bauer war an den jeweiligen Grundherren gebunden. Der „Herr“ hatte unmittelbar Gewalt über den „Knecht“. Gestützt auf diese Gewalt eignete sich der „Herr“ einen Teil des Produktes an, welches der „Knecht“ herstellte. Unter kapitalistischen Verhältnissen gehen die Lohnarbeiter einen Arbeitsvertrag mit den Kapitalisten ein. Die Lohnarbeiter sind formell frei (es gibt keine äußere Gewalt, die sie zum Vertragsabschluß zwingt, eingegangene Verträge können gekündigt werden) und den Kapitalisten formell gleich gestellt (es gibt zwar die faktischen Vorteile eines großen Besitzes, es gibt aber keine „angeborenen“ rechtlichen Privilegien wie in einer Adelsgesellschaft). Ein persönliches Gewaltverhältnis existiert nicht (zumindest in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht als Regel). Für viele Gesellschaftstheoretiker erschien deshalb die bürgerliche Gesellschaft mit ihren freien und gleichen Bürgern als Gegenteil der mittelalterlichen Feudalgesellschaft mit ihren Standesprivilegien und persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Und viele Ökonomen bestreiten, dass es so etwas wie Ausbeutung im Kapitalismus (sie reden zumindest in Deutschland lieber von „Marktwirtschaft“) überhaupt gibt. Hier wirken, so wird behauptet, verschiedene „Produktionsfaktoren“ (Arbeit, Kapital und Boden) zusammen und erhalten dann entsprechende Anteile am Ertrag (Lohn, Profit und Grundrente). Wie sich Herrschaft und Ausbeutung im Kapitalismus aber gerade vermittels der formellen Freiheit und Gleichheit der „Tauschpartner“ realisiert, wird später noch diskutiert werden.

2) In vorkapitalistischen Gesellschaften dient die Ausbeutung der beherrschten Klasse in erster Linie dem Konsum der herrschenden Klasse: deren Mitglieder führen ein luxuriöses Leben, benutzen den angeeigneten Reichtum zur eigenen oder öffentlichen Erbauung (Theateraufführungen im antiken Griechenland, Spiele im alten Rom) oder auch um Kriege zu führen. Die Produktion dient unmittelbar der Bedarfsdeckung: der Deckung des (notwendigerweise) einfachen Bedarfs der beherrschten Klasse und des umfangreichen Luxus- und Kriegsbedarfs der herrschenden Klasse. Nur in Ausnahmefällen wird der von der herrschenden Klasse angeeignete Reichtum dazu verwendet, die Basis der Ausbeutung zu vergrößern (indem z.B. auf Konsum verzichtet wird und stattdessen noch mehr Sklaven gekauft werden, so dass diese einen noch größeren Reichtum produzieren können). Unter kapitalistischen Verhältnissen ist dies aber der typische Fall. Der Gewinn eines kapitalistischen Unternehmens dient nicht in erster Linie dazu, dem Kapitalisten ein angenehmes Leben zu ermöglichen, der Gewinn soll vielmehr erneut investiert werden, damit in Zukunft noch mehr Gewinn gemacht wird. Nicht Bedarfsdeckung, sondern Kapitalverwertung ist der unmittelbare Zweck der Produktion, Bedarfsdeckung und damit auch das angenehme Leben des Kapitalisten ist nur ein Nebenprodukt dieses Prozesses, aber nicht sein Zweck: sind die Gewinne groß genug, dann genügt bereits ein kleiner Teil davon, um das luxuriöse Leben des Kapitalisten zu finanzieren, der größte Teil kann für die „Akkumulation“ (die Vergrößerung des Kapitals) benutzt werden.

Dass der Gewinn nicht in erster Linie dem Konsum des Kapitalisten dient, sondern der beständigen Kapitalverwertung, d.h. der rastlosen Bewegung des immer noch mehr Gewinnens, hört sich vielleicht absurd an. Doch geht es hier nicht um eine individuelle Verrücktheit. Die einzelnen Kapitalisten werden zu dieser Bewegung des rastlosen Gewinnens (beständige Akkumulation, Ausweitung der Produktion, Einführung neuer Techniken etc.) durch die Konkurrenz der anderen Kapitalisten gezwungen: wird nicht akkumuliert, wird nicht der Produktionsapparat ständig modernisiert, droht das eigene Unternehmen von Konkurrenten, die billiger produzieren oder bessere Produkte herstellen, überrollt zu werden. Will sich ein einzelner Kapitalist der ständigen Akkumulation und Innovation entziehen, droht ihm der Bankrott. Er ist deshalb gezwungen mitzumachen, ob er will oder nicht. „Maßloses Gewinnstreben“ ist im Kapitalismus kein moralischer Mangel der Einzelnen, sondern notwendig, um als Kapitalist zu überleben. Wie in den nächsten Abschnitten noch deutlicher werden wird, beruht der Kapitalismus auf einem systemischen Herrschaftsverhältnis, das Zwänge produziert, denen sowohl die Arbeiter und Arbeiterinnen als auch die Kapitalisten unterworfen sind. Daher greift auch eine Kritik zu kurz, die auf das „maßlose Gewinnstreben“ einzelner Kapitalisten, nicht aber auf das kapitalistische System als Ganzes abzielt.

Unter Kapital verstehen wir (vorläufig, später wird es präziser) eine bestimmte Wertsumme, deren Zweck es ist, sich zu „verwerten“, d.h. Gewinn abzuwerfen. Dabei kann dieser Gewinn auf unterschiedliche Weise erzielt werden. Beim zinstragenden Kapital wird Geld gegen Zins verliehen. Der Zins bildet hier den Gewinn. Beim Handelskapital werden Produkte an einem Ort billig gekauft und an einem anderen Ort (oder zu einer anderen Zeit) teurer verkauft. Die Differenz zwischen Einkaufspreis und Verkaufspreis bildet (abzüglich anfallender Unkosten) den Gewinn. Beim industriellen Kapital wird schließlich der Produktionsprozess selbst kapitalistisch organisiert: Kapital wird zum Kauf von Produktionsmitteln (Maschinen, Rohstoffen) und der Beschäftigung von Arbeitskräften vorgeschossen, so dass ein Produktionsprozess unter der Leitung des Kapitalisten (oder seiner Beauftragten) zustande kommt. Die hergestellten Produkte werden verkauft. Liegt ihr Erlös über den für Produktionsmittel und Löhne aufgewendeten Kosten, dann hat sich das ursprünglich vorgeschossene Kapital nicht nur reproduziert, sondern auch noch einen Gewinn abgeworfen.

Kapital in der eben skizzierten Bedeutung (vor allem als zinstragendes und als Handelskapital, weniger als industrielles Kapital) hat es in praktisch allen Gesellschaften gegeben, die Tausch und Geld kannten, allerdings spielte es meistens nur eine untergeordnete Rolle, während die Produktion für den Bedarf dominierte. Von Kapitalismus kann man erst sprechen, wenn der Handel und vor allem die Produktion überwiegend kapitalistisch (also gewinn- und nicht mehr bedarfsorientiert) betrieben werden. Kapitalismus in diesem Sinne ist eine vorwiegend neuzeitlich-europäische Erscheinung.

Die Wurzeln dieser neuzeitlichen kapitalistischen Entwicklung reichen in Europa bis ins Hochmittelalter zurück. Zunächst wurde der Fernhandel auf kapitalistischer Basis organisiert, wobei die mittelalterlichen „Kreuzzüge“ - großangelegte Raubkriege - eine wichtige Rolle für die Ausweitung des Handels spielten. Allmählich begannen dann die Kaufleute, die zunächst nur vorgefundene Produkte gekauft und an einem anderen Ort wieder verkauft hatten, die Produktion zu kontrollieren: sie gaben bestimmte Produkte in Auftrag, schossen die Kosten für das Rohmaterial vor und diktierten den Preis, zu dem sie das fertige Produkt abnahmen.

Den richtigen Aufschwung erfuhr die Entwicklung europäischer Kultur und europäischen Kapitals dann im 16. und 17. Jahrhundert. Was in Schulbüchern gerne als „Zeitalter der Entdeckungen“ bezeichnet wird, fasste Marx folgendermaßen zusammen:

„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. (...) Der außerhalb Europa direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital.“ (MEW 23, S.779, 781)

Innerhalb Europas ergriff die kapitalistische Produktion immer weitere Bereiche, es entstanden Manufakturen und Fabriken, und neben den kaufmännischen Kapitalisten etablierten sich schließlich industrielle Kapitalisten, die in immer größeren Produktionsanlagen immer mehr Arbeitskräfte als Lohnarbeiter beschäftigten. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich dieser Industriekapitalismus zunächst in England, im 19. Jahrhundert zogen dann Frankreich, Deutschland und die USA nach. Im 20. Jahrhundert kam es zur Durchkapitalisierung fast der gesamten Welt, aber auch zum Versuch einiger Länder wie Russland oder China sich dieser Entwicklung durch den Aufbau eines „sozialistischen Systems“ (vgl. dazu unten Kapitel 12) zu entziehen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Orientierung Chinas auf marktwirtschaftlich-kapitalistische Strukturen kennt der Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest geographisch keine Grenzen mehr. Zwar ist noch längst nicht die gesamte Welt durchkapitalisiert (wie ein Blick auf große Teile Afrikas zeigt), aber nicht weil der Kapitalismus auf Widerstand stoßen würde, sondern weil die Verwertungsbedingungen unterschiedlich günstig sind und Kapital immer nach den besten Gewinnmöglichkeiten sucht und die weniger günstigen erst einmal links liegen lässt (vgl. zur Einführung in die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus Conert 1998).